TCM in China

1. Die Rolle der TCM in China
In China selber ist die Bedeutung der traditionellen Medizin in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen.
1949 gab es 270.000 TCM-Praktiker und nicht einmal 40.000 moderne Ärzte.
1990 gab es einen nominellen Höchststand mit ca. 370.000 traditionellen Praktikern, denen allerdings mehr als eine Million moderner Ärzte gegenüberstanden.
Heute ist die Zahl der modernen Ärzte auf ca. 2 Millionen gestiegen, hingegen die der TCM-Praktiker auf unter 300.000 gesunken.
Bei mehr als 1,4 Milliarden Einwohnern steht folglich ein moderner Arzt für jeweils ca. 700 Personen zur Verfügung (Deutschland: 1 Arzt auf ca. 250 Einwohner, also ca. das 3-Fache).
Dagegen kommt heute auf fast 5000 Chinesen nur noch 1 TCM-Arzt.
Zum Vergleich: Allein in Deutschland (mit ca. 80 Millionen Einwohnern gerechnet) gibt es ca. 40.000 Akupunkteure: also 1 Akupunkteur auf ca. 2000 Einwohner, und damit pro Einwohnerzahl mehr als doppelt so viele wie in China!
So ist es nicht verwunderlich, dass die TCM in China heute ihr Selbstbewusstsein zum großen Teil auf die Achtung gründet, die man ihr im Westen entgegenbringt.

2. Weil die Leber dem Holz entspricht, fördert sie das Herz und kontrolliert die Milz
Für die Zeit seiner Entstehung war das Huangdi Neijing ein ungeheurer Fortschritt. Es ersetzte (siehe Paul Unschulds Medizin in China) die Vorstellungen von Dämonenmedizin ("Krankheit durch böse Geister") und religiöser Medizin ("Krankheit als Strafe für Sünde") durch ein beinahe naturwissenschaftliches Konzept: Wer die Gesetze von Yin und Yang missachtet, schwächt den Körper; so können schädliche Emotionen als Innen-Ursachen und klimatische Einflüsse als Außen-Ursachen (von außen nach innen eindringend) Krankheiten verursachen.
Das Huangdi Neijing war seiner Zeit so weit voraus, dass es bis heute, seit nunmehr über 2000 Jahren, das unbestrittene theoretische Fundament der chinesischen Medizin bilden konnte. Das ist einerseits die Besonderheit der chinesischen Medizin. Es ist aber auch – vor allem aus medizinischer Sicht – ihr Elend und ihre Tragik.
Ein Beispiel. Das Huangdi Neijing ordnet die "Leber" der Phase Holz zu, das "Herz" der Phase Feuer, die "Milz" der Phase Erde, die "Lunge" der Phase Metall, die "Niere" der Phase Wasser.
Und weil laut 5-Phasen-Lehre die Phase Holz die Phase Feuer erzeugt und die Phase Erde beherrscht, folgt daraus, dass die Leber das Herz fördert und die Milz beherrscht ... während seinerseits das Herz die Milzfunktion fördert und die Lunge beherrscht, die Milz die Lunge fördert und die Niere beherrscht ... und so immer im Kreis herum.
Wer hat sich das ausgedacht? Oder hätte das wirklich jemand durch klinische Beobachtung gefunden? Das bezweifeln wir. Würde irgend jemand diese Zuordnungen wiederfinden, falls sie mit den Urtexten  verlorengegangen wären? Auch das bezweifeln wir. Grund genug, anzunehmen: diese Zuordnungen sind Spekulationen reinsten Wassers. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind sie klinisch nutzlos, wenn nicht gar schädlich. Und doch waren und sind sie bis heute zentrale Bestandteile der TCM-Theorie.

3. Die doppelte Gallenblase und der jahrtausendealte Misthaufen
Schon früh geriet Chinas Medizin in ein Dilemma, aus dem sie sich bis heute nicht befreit hat: Die überragende Autorität des Huangdi Neijing verhinderte, dass Irrtümer und Spekulationen (von denen es in diesem Werk, wie in jedem Buch dieser Zeit, natürlich wimmelt) als falsch erkannt und eliminiert wurden. Das gilt nicht nur für Aussagen, die offenkundig spekulativ sind. Es gilt sogar für Widersprüche, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen.
Ein Beispiel dafür ist die Gallenblase: In der Organlehre des Huangdi Neijing taucht sie sowohl bei den Fu-Organen (“Hohlorganen”) auf, als auch bei den Qihengzhi Fu (den “außerordentlichen Hohlorganen”). Warum?
Offenbar gab es zur Zeit der Entstehung des Huangdi Neijing nicht nur verschiedene Autoren, sondern auch unterschiedliche Meinungen – und schon damals hatte niemand den Mut oder die Autorität, eines der beiden Konzepte auf den Müll zu werfen. Sie widersprechen sich, sie schließen sich aus – und doch blieben sie alle beide in dem seltsamen Konglomerat der TCM-Medizintheorie.
Ein anderes Beispiel ist die “Fließrichtung” der Leitbahnen.
Einerseits lehrt die TCM heute den “dreifachen Kreislauf”: von Brust zu Hand, Hand zu Kopf, Kopf zu Fuß, Fuß zu Brust und das dreimal. “Blut und Qi” sollen demnach in Lungen-Leitbahn (Hand-Taiyin) von der Brust zum Kopf fließen, dann in der Dickdarm-Leitbahn (Hand-Yangming) von der Hand zum Kopf, in der Magen-Leitbahn (Fuß-Yangming) vom Kopf zum Fuß, und in der Milz-Leitbahn (Fuß-Taiyin) vom Kopf zur Brust. Dann weiter mit Herz-, Dünndarm-, Blasen-, Nieren-Leitbahn, sowie im dritten Umlauf “Herzbeutel-”, “Drei-Erwärmer”-, Gallenblasen- und Leber-Leitbahn.
Andererseits gab es zur Zeit der Entstehung des Huangdi Neijing offenkundig auch eine andere Theorie. Diese ging davon aus, dass die Fließrichtung aller 12 regulären Leitbahnen von distal nach proximal verlief, also jeweils von der Hand bzw. vom Fuß zum Körper hin. So steht denn im Huangdi Neijing (was die heutigen chinesischen Lehrbücher meist unterschlagen) neben der Lehre vom 3-fachen Umlauf an anderer Stelle, dass beispielsweise die Blasen-Leitbahn am Punkt Blase67-Zhiyin “beginne” (qi 起), und ebenso “beginnen” in dieser Darstellung sämtliche Leitbahnen an Hand oder Fuß. Auf diese Sicht gründen sich auch die “5 antiken Punkte”, die bekanntlich sämtlich von distal nach proximal gezählt werden (und auf die sich auch Soulié de Morants ominöse Kategorien der “Tonisierungs- und Sedierungspunkte” stützen).
Beide Theorien, soviel ist einsichtig, widersprechen sich. Wenn eine davon richtig wäre, müsste logischerweise die andere falsch sein. Dennoch blieben beide bis heute bestehen, auch wenn die Lehrbücher die zweite Theorie schamhaft verschweigen. (In der Praxis – aber auch aus Sicht des gesunden Menschenverstandes –  ist die Frage weniger wichtig als sie scheint: offenkundig sind beide Theorien aus der Luft gegriffen und sollten aus einem rationalen Akupunktur-Curriculum eliminiert werden.)
Das aber war und ist das Elend der TCM: Niemals in ihrer Geschichte fand sie Methoden, Richtiges als richtig und Falsches als falsch zu beweisen. Genau das ist es, was Chinas Medizin in methodischer Hinsicht von der westlichen Medizin unterschied. Diese nämlich erweiterte sich nicht nur durch immer neue Beobachtungen, Erfahrungen und Erkenntnisse – das tat die chinesische auch. Wissenschaftlich wurde die westliche Medizin erst dadurch, dass sie Methoden der Falsifizierung fand – Möglichkeiten, durch Experiment, Vergleich, Hypothesenbildung und Hypothesenprüfung Unrichtiges zu eliminieren.
Die TCM ist demgegenüber ein riesengroßer Sack geblieben, in den jeder alles hineinstecken durfte: tiefe Erkenntnisse, wertvolle Erfahrungen und kluge Heilmethoden, aber auch verrückte Spekulationen, albernes Geschwätz, stupiden Aberglauben. Die TCM ist, wie Mao es sagte, in der Tat eine Schatztruhe – aber auch, wie Tan Chuan es formulierte, “ein jahrtausendealter Misthaufen”.
Kein Wunder, dass die alte Medizin für Intellektuelle wie Lu Xun, Chen Duxiu, Guo Moruo oder Ba Jin Inbegriff für Chinas Rückständigkeit war.

3. Praxis und Theorie
Zwar befindet sich die Theorie der TCM seit Jahrhunderten in einem Zustand von Erstarrung und Stagnation. Die therapeutische Praxis jedoch (neben der Verabreichung von Heilmitteln Verfahren wie Akupunktur, Moxa, Schröpfen, Massage und Guasha; dazu Diätetik, Heilgymnastik und Verhaltensregeln) entwickelte sich in weiten Teilen pragmatisch, d.h. ohne sich viel um die Theorie zu kümmern. Wie Paul Unschuld gezeigt hat, spielte insbesondere die Fünf-Phasen-Theorie beim wichtigsten Zweig der angewandten TCM – der Heilmittellehre – die meiste Zeit ihrer Geschichte kaum eine Rolle. Überdies hatte die Pharmakologie in Li Shizhen (1518-1593) einen überragenden Reformer, der in seinem monumentalen Bencao Gangmu (erschienen 1596) zahlreiche Irrtümer früherer Zeiten korrigierte.
Solche Reformer hat es in der chinesischen Medizintheorie nie gegeben, und im Bereich der Akupunktur auch nicht. Es wird sie auch in absehbarer Zeit nicht geben. Denn leider geht die gegenwärtige Tendenz der TCM in China nicht in Richtung Vernunft und Wissenschaft, sondern eher in die entgegengesetzte Richtung.
In den frühen Jahren der Volksrepublik hieß es noch einigermaßen zurückhaltend: "Die Alten
waren der Ansicht, dass ..."
. Heute dagegen werden die physiologischen Konzepte von vor zweitausend Jahren wieder auf eine Weise dargestellt, als wären sie feststehende Tatsachen. Ein Beispiel dafür sind Funktionsbeschreibungen wie 肝主筋 gan zhu jin ("Die Leber regelt die Sehnen"),  肾主生殖 shen zhu shengzhi ("Die Niere regelt die Reproduktion"), oder 脾主运化 pi zhu yun hua ("Die Milz regelt Transport und Verdauung"). Wohlmeinende Apologeten erklären hier eifrig, es handele sich gar nicht um "Organe", sondern um "Funktionskreise". Aber das ist Augenwischerei. Denn zum einen wird bekanntlich die Wirkung der Akupunktur-Leitbahnen ("Meridiane") damit erklärt, dass deren innere Zweige angeblich durch die genannten Organe verlaufen – und wie, bitte sehr, soll ein "Meridian" durch einen "Funktionskreis" verlaufen? Zum andern zeigt das Beispiel "Milz", dass auch dieser angebliche "Funktionskreis" (wenn die alten Chinesen es denn so gemeint hätten) in Wahrheit gar nicht als solcher existiert: Nahrungsaufnahme und erste Verdauung erledigt der Dünndarm (den es auch in der chinesischen Körperlehre gibt), die "Umwandlung" geschieht in der Leber, und der "Transport" erfolgt über Herz, Kreislauf und Blut. Was davon sollte also ein "Funktionskreis Milz" (oder "Milz-Pankreas") regeln?

4. Ist TCM Medizin oder Kultur?
Die offizielle TCM im heutigen China (an der Spitze die SATCM, die "State Administration of Traditional Chinese Medicine" in Peking)  muss alles in allem leider als reaktionär und rückwärtsgewandt bezeichnet werden. Bis heute verweigern sich Chinas führende TCM-Funktionäre dem Eingeständnis, dass die TCM-Klassiker nicht nur tiefe Erkenntnisse und wertvolle Einsichten enthalten, sondern auch haarsträubende Spekulationen und medizinischen Unsinn. Und obwohl die Realität auch in China längst anders aussieht, versuchen sie mit aller Kraft, die Fiktion aufrechtzuerhalten, die TCM sei der modernen Medizin prinzipiell gleichwertig. Diese Position ist nicht nur lächerlich, sondern schädlich. Denn nur wenn die TCM bereit wäre, die Priorität der wissenschaftlichen Medizin vorbehaltlos anzuerkennen, könnte sie konsequent nach Wegen suchen, der überlegenen Medizin zu dienen – und damit auch den Patienten.

Dass die TCM dazu nicht bereit ist, zeigt ein Vorgang, der im Westen kaum zur Kenntnis genommen wurde: Im Januar 2006 beantragte die SATCM bei der UNESCO, die TCM in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufzunehmen. Dies hätte das gesamte medizinische System umfasst, von Körper- und Krankheitslehre über Diagnostik, Syndromlehre bis zu Akupunktur Heilmittelverschreibung und anderem. Als dies bei anderen Staaten offenbar auf Widerstand stieß, wurde der Antrag stillschweigend zurückgezogen. Stattdessen beantragte man nun die Aufnahme allein von Akupunktur und Moxibustion in die Weltkulturerbe-Liste. Und der Antrag kam durch. Am 16. November 2010 wurden Akupunktur und Moxibustion in die Liste aufgenommen, wenig später auch die französische Küche.
Weshalb diese Entscheidung falsch und ein Zeichen zunehmender innerer Korruption bei der zuständigen UNESCO-Kommission ist, wird im Kapitel Akupunktur und das UNESCO-Weltkulturerbe dargelegt.

5. TCM rational betrachtet: 1000 offene Fragen
Man kann, wie dies die Mehrzahl der deutschen TCM-Freunde tut, mit der chinesischen Medizin umgehen wie mit einer Religion. Das jedoch halten wir für unangebracht. Auch die alten Chinesen hatten nur zwei Augen, zwei Ohren und eine Nase. Wir gehen davon aus, dass alles was sie erkannten, auch von uns heute erneut gefunden und erkannt werden kann - außer wenn es sich lediglich um Produkt blühender Phantasie und Spekulation handelt.
Vieles davon entlarvt schon der gesunde Menschenverstand. Erstaunlicherweise gibt es im Westen wie in China nur wenige Bücher, die der TCM zwar wohlwollend, aber doch auch mit gesunder Skepsis gegenüberstehen. Genau das ist aber das Ziel dieser Website. Und wenn man sich in dieser haltung mit der TCM beschäftigt, stößt man überall auf Fragen, die sich geradezu aufdrängen. Eine Anzahl dieser Fragen (leider derzeit nur auf englisch) haben wir im Teil “Offene Fragen der TCM” zusammengestellt.

 

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