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Zu Punkt 1: Der Sinn der "Immateriellen Weltkulturerbe-Liste" Wäre die Liste - was sie nicht ist - eine Art Inventar oder gar Rangliste der immateriellen Weltkultur, so müssten hier an erster Stelle die Dramen von Shakespeare, die Opern von Verdi, die Preludes von Chopin stehen. Das ist aus gutem Grund nicht der Fall. Sie leben und gedeihen von selber, und jede Einmischung von Bürokraten (die der UNESCO eingeschlossen) kann ihnen nur schaden. Außerdem sind sie wirklich “Weltkultur”, d.h. auf der ganzen Welt zu Hause. Das galt bereits für den Tango. Was also hat dieser auf einer Liste zu suchen, die bedrohte Elemente der Weltkultur schützen soll? Wahrhaft lächerlich aber ist, dass nun auch die gesamte französische Küche auf dieser Liste steht, zumal in der hübschen englischen Formulierung “The gastronomic Meal of the French”. Warum soll und wie könnte man das schützen? Sarkozy behauptete, die “traditionelle Form des französischen Essens” sei bedroht. Na und? Werden die französischen Jungs jetzt länger warten, bis sie vom Essenstisch an ihre Computerspiele stürzen, nur weil das französische Gemeinschaftsmahl von der UNESCO für schützenswert erklärt wurde? Absurd. Immer mehr zeigt sich ein Geburtsfehler der Welterbe-Konvention von 2003: dass nämlich die Staaten selber Antragsteller für die Aufnahme in diese Liste sind. Wenn ein Staat wirklich etwas schützen und fördern will, kann er es jederzeit auch ohne die UNESCO tun. Warum also ein Eintrag in die Weltkulturerbe-Liste? Darum: weil es das Ansehen und den Tourismus fördert. Ergebnis ist eine zunehmende Beliebigkeit. So stehen derzeit die Karnevalsbräuche von Oruru in Bolivien, von Baranqilla in Kolumbien sowie von Aalst und Binche in Belgien auf der Weltkulturerbe-Liste; aus Kolumbien zusätzlich der “Carnaval de Negros y Blancos”. Warum nicht auch der Karneval in Köln, in Basel, in Venedig? Schon jetzt ist absehbar, dass die Liste bald zu einem internationalen Wettkampf der Touristenattraktionen führen wird, bei dem diejenigen Objekte, die wirklich schutzbedürftig sind, auf der Strecke bleiben werden.
Zu Punkt 2: Die UNESCO hat in einer strittigen Grundsatzfrage einseitig und fachfremd Position bezogen Dass die Akupunktur wichtige kulturelle Elemente enthält, steht außer Zweifel. Fraglich ist allerdings, welche Elemente der TCM wirklich unverzichtbarer Teil der chinesischen Kultur sind. Um diese Frage wird heftig gerungen, seit im frühen 19. Jahrhundert im Gefolge von westlichen Missionaren, Händlern und Soldaten auch die wissenschaftliche Medizin nach China kam. Dass die Lehre von Yin und Yang zum Kern der chinesischen Kultur gehört, wird niemand bestreiten. Doch schon die 5-Phasen-Lehre, die in der TCM-Theorie von zentraler Bedeutung ist, spielt außerhalb der TCM in China kaum eine Rolle. Das gilt erst recht für die “Meridiane”, die in der Begründung der UNESCO ausdrücklich erwähnt werden (und die folglich der UNESCO zufolge als “schützenswert” zu gelten hätten). Genau diese Frage ist derzeit völlig ungeklärt, genau wie andere Grundfragen der Akupunktur: a) Bedeutung der Akupunktur: Hat die Akupunktur in der klinischen Realität des alten China wirklich eine bedeutende Rolle gespielt? Wie oft kam sie am Kaiserhof zur Anwendung, bevor sie dort 1822 verboten wurde? Bei welchen Indikationen? Wurde sie jemals in nennenswertem Umfang als Monotherapie (also ohne zusätzliche Verschreibung von Heilmitteln) angewandt? b) Akupunktur und TCM-Medizinphilosphie: Ist es für eine erfolgreiche Akupunktur notwendig oder sinnvoll, sich in Körperlehre, Diagnose, Krankheitslehre und Therapie der medizinphilosophischen Kategorien der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) zu bedienen? c) "Meridiansystem": Ist es für eine fachgerechte Akupunktur notwendig oder sinnvoll, weiterhin von der Existenz der anatomisch und physiologisch nicht-existenten "Meridiane" auszugehen? d) Spezifische Wirkung der Punkte: Haben die meisten Akupunkturpunkte wirklich eine spezifische Wirkung, oder beruht die Wirkung der Akupunktur vor allem auf einer Kopplung von Allgemein- und Lokalwirkung therapeutisch erzeugter Mikro-Verletzungen? e) Funktionelle Kategorien: Sind Kategorien wie "Tonisierungs- und Sedierungspunkte", Luo-Punkte, Yuan-Punkte wirklich theoretisch fundiert und klinisch relevant, oder beruhen sie überwiegend auf antiken Schreibtisch-Spekulationen?
Dass über diese Fragen nicht nur im Westen, sondern auch in China seit langem heftig diskutiert wird, hat die UNESCO außer acht gelassen. Was aber soll geschehen, wenn sich wesentliche Aspekte der TCM-Theorie im Licht der medizinischen Vernunft als obsolet erweisen? Empfiehlt die UNESCO vielleicht eine Zweiteilung in "kulturelle" Akupunktur einerseits (die dann in Theatern vorgeführt wird) und "medizinische" Akupunktur andererseits? Das zu beantworten haben die UNESCO-Bürokraten vergessen.
Zu Punkt 3: Die Entscheidung der UNESCO verletzt ihre eigenen Statuten Die Presserklärung weist darauf hin, dass die UNESCO mit der Aufnahme der Akupunktur in die Weltkulturerbe-Liste gegen Regel 4 der Aufnahmekritierien verstoßen hat. Denn diese verlangt the widest possible participation of the community, group or, if applicable, individuals concerned and with their free, prior and informed consent. Natürlich kennt auch die UNESCO-Kommission diesen Passus. Also erklärt sie: (R4) The nomination demonstrates that practitioners have participated in the nomination process and have provided their free, prior and informed consent. Will sagen: Die chinesischen Funktionäre erklärten, Chinas “community” habe die Frage diskutiert und wünsche die Aufnahme der Akupunktur in die Liste. Und sogleich verzichten die UNESCO-Funktionäre auf die widest possible participation, gar nicht zu reden vom free, prior and informed consent. In Wahrheit kann weder von der "widest possible participation" noch von einer Beteiligung der chinesische Akupunkteure überhaupt die Rede sein. Im Gegenteil: das Vorhaben wurde nicht nur der Bevölkerung, sondern auch den chinesischen TCM-Ärzten verschwiegen. Im Januar 2006 hatte die SATCM (State Administration für Traditional Chinese Medicine) beantragt, die gesamte TCM in die Weltkulturerbe-Liste aufzunehmen. Dass sie diesen Antrag zurückgezogen bzw. auf die Akupunktur beschränkt hatte, wurde nie öffentlich bekanntgegeben. In keiner Fachzeitschrift gab es darüber eine offene Diskussion, schon gar nicht in einer Publikumszeitschrift.
Die moderne Akupunktur hat mit der “traditionellen” kaum Gemeinsamkeiten In der Begründung für die Aufnahme der Akupunktur in die UNESCO-Liste heißt es: (R1) Acupuncture and moxibustion ... being transmitted from generation to generation ... Keineswegs. Davon, dass die in ihrer heutigen Form "traditionell" wäre, kann keine Rede sein. Tatsächlich war sie, nachdem sie 1822 am Kaiserhof verboten wurde, in China nahezu ausgestorben. Erst nach 1954 wurde sie aus politischen Gründen künstlich wiederbelebt. Diese neugeschaffene Akupunktur hat im Blick auf Setting, Indikationen, Nadelmaterial, Desinfektion, Stichtechnik, Dokumentation, Ausbildung und Professionalisierung mit der antiken Akupunktur kaum Ähnlichkeiten. Setting: Im antiken China ging der Arzt zum Patienten; heute arbeitet er in der Akupunkturabteilung eines Krankenhauses, wo andere Patienten ihm ebenso zusehen können wie die Kollegen. Indikationen: Bei welchen Indikationen konkret im alten China zu den Nadeln gegriffen wurde, ist unzureichend belegt. Doch sprechen die vorhandenen Berichte dafür, dass die Akupunktur in der Regel als Notfallbehandlung eingesetzt wurde, jedenfalls bei schwerwiegenden Fällen. Heute ist sie dagegen eher eine Therapie für ganz andere Indikationen: in China vor allem bei Kopf-, Gelenk- und Rückenschmerzen, im Westen auch bei funktionellen Störungen und Allergien. Nadelmaterial: Die dünnen Nadeln, die heute verwendet werden, gab es früher nicht. Die weitaus dickeren Nadeln, die im Altertum verwendet wurden, hatten fast immer den Austritt von Blut zur Folge, so dass sie denn auch (vgl. Paul U. Unschuld) häufig im Sinne eines Aderlasses eingesetzt wurden. Desinfektion: Die Akupunktur war im Altertum nicht nur wegen der dicken Nadeln und aufgrund der fehlenden anatomischen Kenntnisse riskant, sondern auch deshalb, weil es keinerlei Desinfektion oder auch nur Hygienemaßnahmen gab. Nadeln wurden an der Kleidung abgewischt oder mit Speichel “gereinigt”. - Ob auch das zu den “schützenswerten” Kulturelementen der Akupunktur gehört, vergisst die UNESCO-Begründung mitzuteilen. Stichtechnik: Die heute üblichen Nadeln erlauben und verlangen sowohl eine andere (und schmerzlose) Technik des Einstichs, als auch andere Formen der anschließenden Manipulation und Stimulation der Nadeln. Dokumentation: Im Altertum stand das Dokumentieren von Patienten- und Therapiedaten im Belieben des Therapeuten. Heute gibt es dafür Formulare, wo die Beschwerden und Erkrankungen in den Kategorien der wissenschaftlichen Medizin festgehalten werden. Erst danach erfolgt eine kurze Deutung im Sinne der TCM-Syndromdiagnostik. Ausbildung und Professionalisierung: siehe unten.
Auch andere Aspekte der UNESCO-Begründung beziehen sich auf die Kriterien für die Aufnahme in die Weltkulturerbe-Liste. So beispielsweise, wenn es heißt: Acupuncture and moxibustion are taught through verbal instruction and demonstration, transmitted through master-disciple relations or through members of a clan. Currently, acupuncture and moxibustion are also transmitted through formal academic education ... Wirklich? Taught through verbal instruction and demonstration bezieht sich darauf, dass den Statuten gemäß vor allem "mündlich überlieferte Traditionen und Ausdruckformen" geschützt werden sollten. Das aber ist bei der Akupunktur keineswegs der Fall; vielmehr beruht sie wesentlich auf einem riesigen schriftlichen Fundament von mehreren tausend Büchern und Manuskripten. Und die Ausbildung? Angeblich transmitted through master-disciple relations or through members of a clan? Wenn das zuträfe, wäre China zurückgekehrt zu den Zuständen in Urwald oder Steppe, wo jeder ohne staatliche Prüfung und Zulassung medizinisch tätig werden konnte. Das wäre ein Zustand, mit dem sich China als zivilisiertes Land lächerlich machen würde. Zum Glück sieht die Wirklichkeit anders aus: staatliche Ausbildung und Zulassung ist auch für Chinas TCM-Ärzte Pflicht. Dass die UNESCO-Kommission wider besseres Wissen behauptet, Akupunktur in China sei nur nebenbei auch ein akademisches Lehrfach ("also transmitted through formal academic education"), ist eine bewusste Verdrehung der Tatsachen. Dass auch die Behauptung, Akupunktur sei "transmitted from generation to generation", nicht zutrifft, sondern die heutige Akupunktur von der im chinesischen Altertums in fast allen Punkten abweicht, wurde schon oben gezeigt.
Fazit: Mit der Aufnahme von Tango, Akupunktur und der französischen Küche in die Liste des schutzbedürftigen Weltkulturerbes hat sich die UNESCO von den Zielen der 2003 beschlossenen “Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes" verabschiedet. Im Fall der Akupunktur hat sie überdies in einer offenen Diskussion einseitig Position bezogen und der künftigen Entwicklung der Akupunktur (wie auch der rationalen Aufnahme wertvoller TCM-Elemente in die wissenschaftliche Medizin überhaupt) schweren Schaden zugefügt. Dass sie dabei auch ihre eigenen Kriterien verletzt hat, kann nur mit einer zunehmenden inneren Korruption erklärt werden.
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