II. Cholera und "funktionelle Störungen"

Akupunktur im Westen:
 Am Anfang war ein Scharlatan

Teil I.     Zusammenfassung
Teil II.   
Erst Cholera, dann “funktionelle Störungen”
Teil III. 
Unbegreifliche Aussagen
Teil IV.   
Der GAU des Hochstaplers
Teil V.    
Indizien und ein Urteil
Teil VI.   
Ist TCM Kultur oder Medizin?
Teil VII. 
Nachtrag: Was taugt die Akupunktur?
Teil VIII.
Literaturangaben und Anmerkungen
Teil IX.  
Fotos

Teil II: Erst Cholera, dann “funktionelle Störungen”

1. Vom Schmerzort-Stechen zur Zusatzbezeichnung

Als einfaches "locus-dolendi"-Stechen ist die Akupunktur in Europa älter, als die meisten denken. Zwischen 1810 und 1830 war sie geradezu eine Modetherapie. Namhafte Vertreter wie Berlioz, der Vater des Komponisten, praktizierten sie. 1825 stellte Sarlandière eine frühe Form der Elektroakupunktur vor. Mit den chinesischen Grundlagen hatte all das jedoch wenig zu tun. So fiel denn Europas Akupunktur bald in einen hundertjährigen Dornröschenschlaf.
Als der Franzose Dabry 1863 sein Werk La Médecine chez les Chinois (1) veröffentlichte, hatte dieses für die medizinische Praxis keine Konsequenzen.
Was heute im Westen als Akupunktur gelehrt und praktiziert wird, begann nach 1929 mit den Schriften von George Soulié de Morant. Den Anfang machte Frankreich, dann folgten Deutschland und andere Länder. Diesmal geschah es mit dem Anspruch, chinesischer Praxis und Theorie zu entsprechen. Dazu gehört auch, dass "Akupunktur" heute – zumindest in der Theorie – als Synonym für "Aku-Moxa-Therapie" steht, was sowohl die Nadelung als auch die Anwendung von Hitze auf Punkte bzw. Leitbahnen umfasst.
Als nach 1945 Gerhard Bachmann, Erich Stiefvater und Heribert Schmidt die Akupunktur in Deutschland einführten, beruhte dies komplett auf den Lehren der Franzosen. Wichtigster Vermittler war ein Schüler Soulié de Morants: Roger de la Fuye, ein Neffe von Jules Verne. Von de la Fuye, übersetzt von Heribert Schmidt, stammte auch 1952 das erste deutschsprachige Akupunkturbuch Die Moderne Akupunktur (2). Da war gerade – am 15. Dezember 1951 – die "Deutsche Gesellschaft für Akupunktur" gegründet worden, aus der später die "Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur" (DÄGfA) werden sollte – derzeit die größte Vereinigung von TCM-Praktizierenden außerhalb Chinas. 

Wenn man allerdings die ersten deutschen Akupunkteure und ihre Bücher heute betrachtet, kann man nur staunen. Diese Leute behaupteten ja wie ihre französischen Lehrer, die echte, also "chinesische" Akupunktur zu lehren und zu praktizieren. Aber konnten Bachmann, Stiefvater oder Schmidt chinesisch? Nein. Oder de la Fuye? Auch nicht. Hatte einer von ihnen Zugang zu chinesischen Quellen, vielleicht zusammen mit einem Chinesen? Nein, keiner.
Wäre es da nicht selbstverständlich gewesen, alle Aussagen über die chinesische Medizin mit Vorbehalt zu versehen? Immer mit dem Hinweis: "Wir vermuten das, wir arbeiten vorläufig damit, aber nur, bis wir es anhand der Quellen überprüfen können"?
Ja, so hätte es sein müssen. Aber so war es nicht. Ehrfürchtig trabten sie dem ersten besten hinterher, der behauptete, er kenne sich aus. Abgesehen von Stiefvater, der sich gelegentlich kritische Anmerkungen erlaubte, fragten sie nicht, zweifelten nicht, prüften nicht. Sondern sie glaubten.
Und das in dieser Zeit. Gerade erst lagen Hitler, der Weltkrieg, die Katastrophe hinter ihnen: Deutschland in Ruinen, nachdem es 12 Jahre blindgläubig einem Verbrecher gefolgt war. Und doch hatten diese braven Leute nichts daraus gelernt. Sie wechselten bloß den Führer. Für die deutschen Nadelfreunde war das vor allem der charismatische de la Fuye. Bei dem lernte wenig später auch der redselige Bischko, der lange Zeit die Akupunktur in Österreich dominierte, und der bis zu seinem Tod de la Fuye als seinen Lehrer lautstark lobte.
Aber hinter diesem, das wusste man, stand ein Größerer: George Soulié de Morant. Der sprach und las chinesisch. Der hatte jahrzehntelang in China gelebt. Der hatte die Akupunktur dort bei den besten Lehrern gelernt. So jedenfalls berichtete er es. So glaubte man es damals. Und so glaubt es die westliche Akupunkturwelt noch heute.

46 Jahre, von 1929 bis 1975, lernte man von Soulié de Morant und dessen Nachfolgern. Danach, seit 1975 das erste chinesische Akupunkturbuch auf englisch erschien (3), von den Chinesen. Scheinbar eine logische, kontinuierliche Abfolge. Rationale, jahrzehntelang überprüfte Lehrinhalte. So jedenfalls behaupteten es die deutschen Akupunkturgesellschaften, die ansonsten immer zerstritten waren. Tatsächlich gelang es ihnen damit, die gesamte deutsche Ärzteschaft über den Tisch zu ziehen. Sie setzten durch, dass der 106. Deutsche Ärztetag am 22. Mai 2003 die "Zusatzbezeichnung Akupunktur" etablierte.
Seitdem dürfen sie, die Akupunkturgesellschaften, bestimmen, was die Ärzte lernen müssen, um die Akupunktur auf ihr Praxisschild schreiben zu dürfen. Seitdem gibt es bei der Bundesärztekammer ein "Musterkursbuch Akupunktur", das die wichtigsten Lehrinhalte zusammenfasst – angeblich ein solides, überprüftes Curriculum. In Wahrheit ein Konglomerat von absurden Begriffen, konfusen Erklärungen, falschen Bewertungen sowie von Konzepten, die dem Aberglauben vielfach näherstehen als dem Geist aufgeklärter Wissenschaft.
Ein Schandfleck der rationalen Medizin. Eine Blamage. Eine Kapitulation der deutschen Ärzteschaft vor einer geschickten Lobby von Bluffern, die das Wort "Ganzheitlichkeit" vor sich hertragen wie des Kaisers Schneider die Seide der neuen Kleider.
So jedenfalls sehe ich es – und ich werde im folgenden versuchen, diese Sicht zu belegen.

Dass die Akupunkturgesellschaften durch einen Bluff die "Zusatzbezeichnung" erschleichen konnten, ist allerdings weder ein Wunder noch in der Akupunkturgeschichte einmalig. Denn auch der Anfang von dem, was 2003 seinen vorläufigen Abschluss fand, war nichts als ein riesengroßer Bluff. Soulié de Morant, der 1929 alles angefangen hatte, war ein Scharlatan. Die chinesischen Lehrer, bei denen er gelernt haben wollte, gab es nicht. Solange er in China war, hatte er nie eine Akupunkturnadel in der Hand gehabt. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte er in China sogar nie eine Akupunktur gesehen. Und im folgenden werde ich nachweisen, dass die Akupunktur, die er lehrte, im wörtlichen Sinn ein Hirngespinst war.
Also ein Betrüger, wenn auch ein begnadeter und fleißiger. Einer, der später alles daran setzte, den Luftballon Akupunktur, den er in die Welt gesetzt hatte, mit Substanz zu füllen. Dennoch ein Betrüger, der von der realen Akupunktur keinerlei Kenntnis hatte. Die ihm folgten, waren entweder gläubige Jünger wie Schmidt oder Bachmann. Oder sie waren selber Bluffer und Blender wie de la Fuye. Oder sie waren ein Gemisch von beidem, gläubige Bluffer wie später Bischko in Österreich, Schnorrenberger in Deutschland oder Worsley in England (die sich bemühten, ihre weitgehende Unkenntnis Chinas und des Chinesischen nicht erkennen zu lassen). Oder auch der missionarische Sinologe Manfred Porkert, der seine medizinische Inkompetenz zu verbergen suchte.

Dabei hätte man, um den Betrug zu erkennen, nicht einmal Chinesisch können müssen. Aufmerksamkeit, gesunder Menschenverstand, kritisches Nachfragen und sorgfältiges Überprüfen hätten gereicht. Aber das war und ist das Elend der deutschen Akupunkteure: sie passten nicht auf. Sie fragten nicht, sie prüften nicht, sie forschten nicht. Und sie tun es bis heute nicht.
Nie gab es einen Kongress oder ein Buch, wo man einmal all das Absurde und Missverstandene diskutiert hätte, von dem es in den Lehrinhalten der deutschen Akupunktur wimmelt – aber auch der chinesischen. Meridiane, Lebensenergie, Organuhr, Qi-Kreislauf. Tonisierungs- und Sedierungspunkte, Kardinal-, Alarm-, Yuan-, Luo-, Spaltpunkte und sonstige Punktekategorien. Pulsdiagnose, fünf Phasen, chinesische Körper- und Krankheitslehre. Eigenschaften der Punkte. Lauter Dinge, die auf derart konfuse Weise in den Lehrinhalten herumgeistern, dass es zum Lachen wäre, wenn nicht die armen Kursteilnehmer diese Suppe für teures Geld auslöffeln müssten.
Als würden unsere Akupunkteure, wenn sie den Raum der chinesischen Medizin betreten, nicht nur ihre Mäntel an der Garderobe abgeben, sondern auch ihr kritisches Bewusstsein und ihren gesunden Menschenverstand.


2. Schmerzhafte Punkte, funktionelle Störungen, Cholera

Der erste Satz des ersten deutsch-französischen Akupunkturbuches lautete:
Die Akupunktur ist die Nutzbarmachung schmerzhafter Hautpunkte für die Diagnose und Therapie (4).
Und es folgte die Mitteilung:
Die Punktur dieser Punkte, die entweder spontan oder auf Fingerdruck schmerzhaft sind, bewirkt zunächst eine unmittelbare örtliche Schmerzlinderung und dann auf dem Reflexwege eine Tonisierung (mit einer Goldnadel) oder Sedation (mit einer Silbernadel) eines kranken Organs oder einer im Gleichgewicht gestörten Funktion (5).
Ein grandioses Konzept. Punkte, die bei Erkrankung schmerzhaft wurden – wie bei den "Head’schen Zonen", nur viel detaillierter. Und mit den chinesischen Punkten konnte man Krankheit nicht nur erkennen, sondern durch Nadelung auch gleich heilen. Herrlich!
Fragte sich nur, ob es denn stimmte.
Erstens, ob wirklich jeder Akupunkturpunkt bei bestimmten Leiden spontan oder auf Druck schmerzhaft wurde.
Zweitens, ob die Nadelung dieser Punkte die Krankheit wirklich heilte.
Drittens, ob diese Nadelung mit Gold- oder Silbernadeln erfolgen musste.
Viertens, ob das wirklich so in China gelehrt und praktiziert wurde.
Wie in den deutschen Akupunkturbüchern üblich, gab es keine chinesischen Quellen. Woher also stammte das?
Natürlich von Soulié de Morant. Der hatte im Juni 1929 in seinem ersten Aufsatz zur Akupunktur gemeinsam mit Paul Ferreyrolles geschrieben:
Les Chinois ... ont observé de toute antiquité que ... les troubles fonctionnels des organes internes s’accompagnent toujours d’une sensation douloureuse en certains points (6). ("Die Chinesen bemerkten im fernen Altertum, dass funktionelle Beschwerden der inneren Organe immer mit einer schmerzhaften Empfindung an gewissen Punkten einhergingen").
Was aber folgte bei den Chinesen angeblich auf diese Entdeckung?
Le médecins Chinois ont eu l’idée qu’une excitation sur ces points pourrait avoir und action sur l’organe malade et modifier son état. De là est nè la traitement de certaines affections par l’acuponcture et les moxas (7). ("Die chinesischen Ärzte hatten die Idee, dass eine Erregung dieser Punkte eine Wirkung auf das erkrankte Organ haben und seinen Zustand beeinflussen könnte. So entstand die Behandlung bestimmter Erkrankungen durch Akupunktur und Moxa").

Spätestens hier hätte jeder, der medizinisch nicht auf den Kopf gefallen war, stutzig werden müssen.
Was für Störungen waren es, die angeblich immer eine schmerzhafte Empfindung hervorriefen?
Laut Soulié de Morant die funktionellen Beschwerden.
Und zwar nur diese!
Wenn nämlich alle Störungen innerer Organe eine schmerzhafte Empfindung hervorgerufen hätten, dann hätte die Logik der Herleitung geboten, auch alle mit Akupunktur und Moxa zu behandeln. Aber laut Soulié de Morant waren es nur die funktionellen Störungen. Entsprechend definierte er den Anwendungsbereich der Akupunktur:
Le veritable registre de l’acuponcture est le trouble fonctionnel opposé aux lesions qui relèvent de la chirurgie ou d’autres méthodes (8). ("Das wahre Gebiet der Akupunktur sind die funktionellen Störungen, abzugrenzen von den Läsionen, die durch Chirurgie und andere Methoden zu behandeln sind").
Und keinem fiel etwas auf. Keiner merkte, welche Unlogik, welch physiologischer Unsinn in dieser Herleitung steckte.

Erstens war zweifelhaft, ob sich die Ärzte des Altertums wirklich mit funktionellen Beschwerden abgaben, und ob nicht ihre Aufmerksamkeit vor allem den gefährlichen Zuständen galt. Aber was war denn, zweitens, bei denen? War es denkbar, dass die wunderbaren Punkte der Chinesen zwar bei funktionellen Störungen schmerzhaft wurden, nicht aber bei bedrohlichen Erkrankungen?
Es hätte ja wirklich sein können, dass es da irgendwelche Reflexbahnen gab, die der westlichen Forschung entgangen waren. Bahnen, die periphere Punkte bei inneren Störungen schmerzhaft werden ließen, eben nach Art der erwähnten Head’schen Zonen. Dass diese Bahnen allerdings nur auf funktionelle Störungen ansprechen sollten, nicht jedoch auf schwere somatisch-chirurgische Erkrankungen, ist physiologisch undenkbar. Dies schon deshalb, weil ja auch bedrohliche Organveränderungen sich in der Frühphase vielfach als funktionelle Störungen bemerkbar machen.
Was war denn, wenn sich sogenannte "funktionelle Störungen" zu Erkrankungen entwickelten, die chirurgische Intervention oder andere tiefgreifende Maßnahmen erfordert hätten? Hörten die peripheren Punkte, falls es sie wirklich gab, dann auf, schmerzhaft zu sein? Kaum vorstellbar. Und wenn es sich jemand hätte vorstellen können, dann wäre spätestens hier eine Erklärung fällig gewesen. Die aber gab und gibt es bis heute nicht.
Es hätte also heißen müssen: "Punkte, die sogar bei funktionellen Beschwerden schmerzhaft werden (und bei schweren und/oder irreversiblen Erkrankungen erst recht)". Hieß es aber nicht. Die verblüffende Bedeutung war nach Soulié de Morant tatsächlich: "Akupunkturpunkte sind Punkte, die nur bei funktionellen Beschwerden schmerzhaft werden". Um zu merken, dass dies physiologisch absurd war, hätte es kein chinesisches Schriftzeichen gebraucht. 

War nun diese Definition in sich schon unbegreiflich, so wurde sie es noch mehr, wenn man las, wie Soulié de Morant angeblich zur Akupunktur gekommen war:
Quand j’arrivai en Chine en 1901, parlant et lisant couramment le chinois, le destin mit fit assister à la guérison presque instantanée, grâce aux aiguilles, de malheureux atteints par la terrible épidémie de choléra qui ravageait alore Péking ... Enthousiasmé, mais soupçonnant quelque magie, j’obtins du practicien le prêt d’une aiguille et de quelques malades; après avoir observé avec soin les endroits où piquer, mes malades furent guéris (9). ("Als ich, das Chinesische fließend sprechend und lesend, 1901 in China ankam, ließ mich die Bestimmung miterleben, wie die unglücklichen Befallenen der schrecklichen Cholera-Epidemie, die damals in Peking tobte, dank der Nadeln fast augenblicklich geheilt wurden ... Begeistert, aber irgendwelche Magie vermutend, erhielt ich von dem Akupunkteur eine Nadel und einige Kranke geliehen; nachdem ich sorgfältig die Stellen beobachtet hatte, wo zu nadeln war, wurden meine Patienten geheilt.").
Zeilen, die von Unwahrscheinlichem geradezu überquellen: etwa dass er schon vor seiner Ankunft das Chinesische fließend sprechen und lesen konnte. Oder dass der chinesische Arzt ihm, den Ausländer, nicht nur mal eben ein paar Punkte gezeigt, sondern ihm auch noch seine Patienten "geliehen" hätte, zudem lebensgefährlich erkrankte. Doch davon soll später die Rede sein. Hier nur dieses: wenn es so gewesen wäre, dann hätte er, der Nichtmediziner, seine Akupunktur in China ausgerechnet mit der erfolgreichen Behandlung von Cholera begonnen. Gibt es ein krasseres Gegenstück zu einer "funktionellen Störung" als diese Krankheit, die einen kräftigen Mann innerhalb weniger Stunden ins Jenseits befördern konnte? Wie also kommt Soulié de Morant zu seiner Definition Das wahre Gebiet der Akupunktur sind die funktionellen Störungen?
Allein diese Widersprüche zeigten schon, dass hier etwas nicht stimmte.
Aber auch anderes stimmte nicht.


3. Falscher Adel, falscher Konsul

Genaugenommen stimmte gar nichts. Schon der Name "Soulié de Morant" war eine Fälschung, jedenfalls eine Erfindung. Geboren wurde er am 2. Dezember 1878 als Georges Soulié. Als solcher veröffentlichte er auch sein erstes Buch, nämlich 1903 die Éléments de Grammaire Mongole.
In den späteren Büchern nennt er sich "George Soulié de Morant". Also ein Adelsname. Außerdem eine andere Schreibung des Vornamens, nämlich George anstatt Georges. Warum?
Angeblich (so die Website seines Großneffen Francis), um sich von seinem Bruder Maurice Soulié abzusetzen, der gleichfalls Bücher schrieb. Das wäre so, als hätte sich Thomas Mann, um sich vom älteren Bruder Heinrich Mann zu unterscheiden, Tomaso Mann von Hohenstein genannt.
Möglich wäre auch, dass er sich schon in China von dem Missionar Jean André Soulié abheben wollte. Dieser wurde 1905 von tibetischen Mönchen gefangengenommen, zwei Wochen gefoltert und dann, zusammen mit seinem Gefährten, ermordet – ein Ereignis, das damals bei den Ausländern in China großes Aufsehen erregte.
Am wahrscheinlichsten allerdings ist etwas anderes: offenbar litt dieser hochgewachsene (1,90 Meter) und hochintelligente junge Mann an seinem niedrigen Status, vor allem daran, dass er weder eine Universität noch eine prestigeträchtige Schule besucht hatte. Der Website seines Großneffen Francis zufolge soll Soulié de Morant (mit 18 Jahren!) "Lizentiat der Rechte" gewesen sein, also Inhaber eines niedrigen juristischen Grades, den seit Napoleon jeder Franzose ungeachtet seiner Vorbildung nach einigen Monaten des Studiums ablegen konnte. Allerdings findet sich weder in Soulié de Morants Nachlass noch in den Archiven der französischen Hochschulen hierzu irgendein Beleg.
So machte er sich wenigstens im Namen zu etwas Höherem: nämlich zu einem Adligen.
Und der Vorname?
Das lag wohl an einem der Probleme, wie sie sich durch die Täuschungen und Vorspiegelungen des jungen Soulié immer wieder ergeben sollten. In Wahrheit half der falsche Adelsname keineswegs, Verwechslungen zu vermeiden, sondern führte im Gegenteil welche herbei: es gab nämlich einen echten Grafen "Georges de Morant", der ebenfalls Bücher schrieb. So war der junge Soulié gezwungen, den Vornamen Georges in George abzuändern. 

Wie kam er nach China? Was machte er da? Wie kam er zur Medizin?
Zur Frage, was ihn nach China brachte, vermeidet er jeden Hinweis. Aber in der Mongolischen Grammatik von 1903 erwähnt er wenigstens seinen damaligen Job:
Pendant mon dernier séjour à Péking où je remplissais ... 1902 les fonctions de secrétaire interprète, pour le chinois, de la Compagnie Impériale des Chemins de fer chinois ... (10). ("Während meines letzten Aufenthaltes in Peking, wo ich ... 1902 für die Kaiserliche Chinesische Eisenbahngesellschaft die Aufgaben eines Dolmetscher-Sekretärs für das Chinesische wahrnahm ...").
Wer ihn 1901 nach China geschickt hatte, sagt er nicht, auch nicht, warum er so schnell den Arbeitgeber gewechselt hatte. 1902 jedenfalls ist er Dolmetscher und Sekretär bei der Eisenbahn – mit genug freier Zeit, um nebenbei Mongolisch zu lernen und dazu eine Grammatik zu schreiben. Und danach?
Im Aufsatz vom April 1932 über die Heilung von Cholera durch Akupunktur schreibt er:
Deux ans plus tard, vice-consul-juge à la Cour Mixte de Shanghai, je trouvai comme médecin du Tribunal en excellent savant en aiguilles. Il consentit à m’instruire en me faisait traiter des malades sous sa direction ... Mais plus tard encore, consul à Yunnan-fou ... un médecin chinois dont je fis la connaissance m’indiqua des livres et me donna des conseils pour les malades de notre hôpital (11). (Zwei Jahre später, Vize-Konsul und Richter am Gemischten Gerichtshof in Shanghai, traf ich als Arzt des Tribunals einen exzellenten Akupunkteur. Er erklärte sich bereit, mich zu unterrichten und ließ mich unter seiner Anleitung Patienten behandeln ... noch später, Konsul in Yunnan-fou [heute Kunming] ... nannte mir ein chinesischer Arzt, den ich dort kennenlernte, Bücher und gab mir Ratschläge für die Patienten in unserem Hospital").
1901 Dolmetscher. Zwei Jahre später, 1903, "Vizekonsul" in Shanghai. Außerdem "Richter" am Gemischten Gerichtshof. Noch später in Yunnan-fou/Kunming sogar "Konsul". Wirklich?
Wieder einmal lauter Angaben, wo schon der gesunde Menschenverstand Zweifel anmelden muss. Der Standesdünkel der französischen Diplomaten (deren Sprache bis heute die internationale Sprache der Diplomatie ist) ist bekannt. Bei diesen hochnäsigen Leuten soll der 24-jährige Soulié, der weder eine Hochschule noch die Diplomatenschule besucht hatte, in Shanghai "Vizekonsul" geworden sein? Und damit Vorgesetzter diverser altgedienter Attachés und Botschaftsräte? Etwas später, noch keine 30, in Kunming sogar "Konsul"? Schwer zu glauben.
In der Tat, auch der "Konsul" war gelogen. Das stellte sich heraus, als ich 2007 in Paris seine Tochter Evelyne (geboren 1914) und seine Enkelin interviewte. Soulié de Morant, so erfuhr ich dort, war während seiner gesamten Zeit in China niemals Konsul oder Vizekonsul. Erst als er aus dem Dienst des Außenministeriums ausschied, erhielt er ehrenhalber diesen Titel, vermutlich 1924. Denn erst 1925 prangt auf dem Umschlag seiner Bücher (nach wie vor über Geschichte, Kunst, Musik und Literatur, niemals zur Medizin), unter dem Namen des Autors erstmals der Hinweis: Consul de France.
Und "Richter"?
Wie man’s nimmt. Zu den vielen Themen, über die er schrieb, gehörte 1925 auch ein Buch über Exterritorialité et Intérèts étrangers en Chine ("Exterritorialität und ausländische Interessen in China"). Da findet sich zwischen langen historischen und juristischen Exkursen eine Mitteilung, wer für die französische Seite in diesem Gerichtshof saß. Nämlich
 un français, délégué du consul, généralement le 1er interprète du consulat (12). ("Ein Franzose, vom Konsul delegiert, normalerweise der erste Dolmetscher des Konsulats").
Also nichts von Konsul oder Vizekonsul. Sondern erster Dolmetscher, nicht mehr und nicht weniger.
Das ist das Schlimme bei Soulié de Morant: man möchte diesem hochbegabten und fleißigen Mann so gerne glauben. Man wünscht ihm, das Schicksal hätte ihn durch Posten und Ehrungen dafür entschädigt, dass es ihm eine akademische Ausbildung vorenthielt. Aber es hilft nichts: sowie man anfängt, seine Angaben zu überprüfen, stößt man auf Schritt und Tritt auf Lügen, Halbwahrheiten, Täuschungen.


4. Nie sollst du mich befragen

Und man stößt immer wieder auf unbegreifliches Verschweigen. Da sind tausend Dinge, die er doch wissen müsste, wenn seine Angaben den Tatsachen entsprächen. Welches war das Hospital, wo er die Nadelung der Cholerakranken gesehen und seine Akupunktur begonnen haben will? Bei der ersten Erwähnung im April 1932 heißt es:
... en 1901 ... le destin, sous la forme du vénérable évêque de Mongolie, le regretté Mgr Bermyn ... me fit visiter l’hôpital des missionaires (13) ("... 1901 ... ließ mich die Bestimmung, in Gestalt des ehrenwerten Bischofs der Mongolei, des verstorbenen Mgr. Bermyn ... das Hospital der Missionare besuchen"). Beim zweiten Bericht im Juni 1932 fehlt jeder Hinweis auf den Ort. Im Précis de la vraie Acuponcture Chinoise von 1934, seinem ersten Akupunkturbuch, ist es l’hôpital que je visitai (14) ("das Hospital, das ich besuchte"). In seinem Hauptwerk L’Acuponcture Chinoise (1. Teil 1939; 2. Teil 1941) ist der Ort noch schwammiger beschrieben, nämlich visitant les œvres françaises (15) ("beim Besuch der französischen Einrichtungen"). Es gab aber in Peking gar kein französisches "Hospital der Missionare". Doch es gab seit 1900 ein St.-Vincent-Hospital. War es das?
Er verschweigt es.
Welche Punkte nadelte der chinesische Akupunkteur? Keine Angabe. Wo will Soulié seine chinesischen Patienten behandelt haben – bei denen zuhause? Bei sich selber? In der Wohnung eines Arztes? In einem Hospital? Er verschweigt es. Was für Krankheiten behandelte er in China, abgesehen von den angeblichen Cholerapatienten? Er verschweigt es. Welches waren die ersten Bücher, die ihm die drei chinesischen Ärzte gaben oder nannten? Nie teilt er sie mit. Was für Tips, was für praktische Hinweise gaben sie ihm? Offenbar keine, denn auch darüber verliert er niemals ein Wort. Gab es Unterschiede zwischen den drei Ärzten? Wie lebten sie, wie fanden sie ihre Patienten, wie untersuchten, diagnostizierten und behandelten sie?
Nie auch nur ein einziger Satz. Schon das ist im Grunde hinreichend, um zu dem Schluss zu kommen: diese drei Lehrer hat es nie gegeben.

Nie nennt Soulié de Morant etwas Konkretes, das sich nachprüfen ließe: keine Daten, keine Orte, keine lebenden Personen. In welchem Monat kam er 1901 in China an? Keine Angabe. In welcher Stadt hat er zuerst gelebt, da er doch in Peking nur zu einem "Aufenthalt" war? Keine Angabe. Wo hat er in Shanghai gewohnt? In welchem Jahr ging er nach Yunnan-Fou/Kunming? Keine Angabe. Nie tauchen die Namen von Vorgesetzten oder Kollegen auf, weder die von der chinesischen Eisenbahn, noch die vom Konsulat. Wenn er nach 1929 jemals Personen aus seiner Zeit in China nennt – wie Monsignore Bermyn – kann man sich darauf verlassen, dass sie tot sind, so dass man sie nicht mehr befragen kann.
Dabei grenzt, was er mitteilt, ans Wunderbare. Beispielsweise kämpfe ich selber (fünf Jahre in China, chinesische Ehefrau mit umfangreicher Verwandtschaft, jährlich eine oder zwei Chinareisen) nach 30 Jahren des Lernens immer noch mit dem Memorieren der 3000 Schriftzeichen, die man zum Lesen chinesischer Zeitungen braucht. Das Umgangschinesisch spreche ich jetzt, nach jahrzehntelanger Übung, in der Tat fließend. Wie aber lernte das der junge Soulié in Frankreich? Ohne chinesische Umgebung, ohne Tonaufzeichnungen, ohne vernünftige Lehrbücher? Es gab nicht einmal Literatur in der Umgangssprache, denn die wurde erst später von Lu Xun und dessen Zeitgenossen in die Belletristik eingeführt. Wie also schaffte es der 22-jährige Soulié, dass er das Chinesische fließend sprechend und lesend, 1901 in China ankam? Ein Rätsel, das er nie auch nur mit einem Satz aufzuklären geruht.
Er behauptet, in Yunnan-fou (als Konsul!) am Konsulatshospital Patienten behandelt zu haben, für die ihm der dritte chinesische Lehrer angeblich Ratschläge erteilte. Aber er verschweigt den Arzt Dr. Feray, der in dieser Zeit dort nicht nur Konsulatsarzt war, sondern auch 1910 in der Zeitschrift Annales d’hygiène et de médecine coloniales einen ausführlichen Bericht darüber veröffentlichte – sowohl über das Krankenhaus, als auch über die Situation der Medizin und der chinesischen Ärzte in der Stadt (16).
Derart beredt ist dieses Schweigen des Soulié de Morant, dass sich der Schluss aufdrängt: er schweigt, weil er lügt. 

Wann kam er eigentlich aus China nach Frankreich zurück?
Auch das verschweigt er. Heute steht in vielen Berichten, er hätte fast zwei Jahrzehnte in China gelebt. In Wahrheit waren es kaum 10 Jahre. Denn 1910 ist er zurück in Paris, 1911 heiratet er dort, 1912 kommt sein Sohn zu Welt, 1914 seine Tochter Evelyne. Den Boxeraufstand hat er nicht mehr, den Sturz von Kaiserreich und Qing-Dynastie noch nicht miterlebt.
Was macht er danach?
Er schreibt: Bücher, Beiträge für Zeitschriften, Bücher. Er schreibt über Gott und die chinesische Welt, über alle Themen, die mit China zusammenhängen. Nur über eines nicht: über Medizin.
Schon gar nicht über Akupunktur.
Hier eine Liste seiner Bücher zwischen 1911 und 1932, also dem Jahr, in dem er erstmals behauptet, er habe in China Akupunktur gelernt. Bücher mit (Ü) sind Übersetzungen aus dem Chinesischen:
1911 La Musique en Chine
1911 Tseu-Hsi, Impératrice des Boxers *
1912 Lotus d'or (Ü)
1912 Essai sur la Littérature Chinoise
1913 Strange Stories from the Lodge of Leisures (Ü)
1915 La Brise au Clair de Lune (Ü) *
1916 Les Droits Conventionnels des Étrangers en Chine
1920 In the Claws of the Dragon (eigener Roman) *
1921 Les Contes galants de la Chine (Ü) *
1922 Le Palais des Cent Fleurs (Roman, Urfassung von "In the Claws of the Dragon) *
1923 Mon cher Compagnon (eigener Roman)
1923 Le Florilège des Poèmes Song (Ü)
1924 La Passion de Yang-Kwé-Fei (eigener Roman) *
1924 Le Singe et le Pourceau (Ü) *
1925 Bijou-de-Ceinture (eigener Roman) *
1925 Exterritorialité et Intérêts étrangers en Chine *
1925 Der Chinesische Dekameron (Ü. von "Les Contes galants") *
1926 Théâtre et Musique modernes en Chine *
1926 Trois Contes Chinois du xviie Siècle (Ü) *
1926 The Breeze in the Moonlight (Ü. von “La Brise au Clair de Lune") *
1927 Ce qui ne s’avoue pas, même à Shanghaï, ville de plaisirs (eigener Roman) *
1928 Histoire de l'Art Chinois *
1928 L'Épopée des Jésuites Français en Chine *
1928 L'amoureuse Oriole, Jeune fille (Ü)
1928 Le Trésor des Loyaux Samourais (Ü) *
1929 La Vie de Confucius *
1929 Histoire de la Chine *
1929 Les Préceptes de Confucius *
1930 Divorce anglais (eigener Roman)
1931 A History of Chinese Art (Übers. von "Histoire de l’Art Chinois) *
1931 Saine jeunesse (eigener Roman)
1932 Soun Iat-Senn *
1932 Sciences occultes en Chine: La Main *
1932 Anthologie de l’Amour Chinois (Ü)

Eine unglaubliche Produktivität. 4-mal (1925, 1926, 1929, 1932) erscheinen in einem Jahr jeweils 3 Bücher von ihm. 1928 sind es sogar 4 Bücher in einem einzigen Jahr! Außerdem diverse Beiträgen für Zeitschriften, und das ohne PC, ohne Kopierer – bewundernswert. Ein Schnellschreiber ohnegleichen.
Warum aber, so wird er gefragt, schreibt er vor 1929 niemals über Medizin?
Weil die europäischen Ärzte, behauptet er, ihn immer verlacht hätten, wenn er positiv über die chinesische Medizin sprach. Erst das Interesse von Paul Ferreyrolles habe ihm Mut gemacht, gemeinsam mit diesem erstmals über Akupunktur zu schreiben.
Das scheint schlüssig, ist es aber nicht. Erstens war da ja der Arzt Dr. Feray, der zur selben Zeit wie er selber in Yunnan-fou gewesen war und für die dortige Medizin nachweisbar großes Interesse zeigte. Zweitens sind Krankheit, Medizin und Heilung wichtige Bestandteile jeder Gesellschaft, auch für Nicht-Mediziner. Wenn die Akupunktur für Soulié de Morant wirklich seit der Zeit in China ein Anliegen gewesen wäre, dann hätte er das ohne weiteres zeigen können. Genau das aber ist nirgends der Fall. Das Zeichen "*" in der obigen Liste kennzeichnet die Bücher in meinem Besitz. Und zumindest von diesen Büchern kann ich sagen: in ihnen allen erscheint die chinesische Medizin, wenn überhaupt, nie anders als am Rande, und auch dann nur als Gabe von Pillen oder Heilkräutern. Niemals – auch nicht in den eigenen Romanen von Soulié de Morant – greift ein Arzt zu den Nadeln. Mehr noch: das Wort "Akupunktur" wird in allen diesen Büchern niemals erwähnt.

---> Teil III:  Unbegreifliche Aussagen
 

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