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Akupunktur im Westen: Am Anfang war ein Scharlatan
Teil I. Zusammenfassung Teil II. Erst Cholera, dann “funktionelle Störungen” Teil III. Unbegreifliche Aussagen Teil IV. Der GAU des Hochstaplers Teil V. Indizien und ein Urteil Teil VI. Ist TCM Kultur oder Medizin? Teil VII. Nachtrag: Was taugt die Akupunktur? Teil VIII. Literaturangaben und Anmerkungen Teil IX. Fotos
Teil VI. Ist TCM Kultur oder Medizin?
20. "Meridiane" und "Energie"
Also ein Hochstapler. Die moderne Akupunktur des Westens begann mit einem Betrug: anfangs improvisiert, später notdürftig aus chinesischen Büchern zusammengeklaubt – teils halb, teils gar nicht verstanden, teils schlichtweg ausgedacht. Allerdings war dieser Mann hochintelligent, gelegentlich geradezu genial. Und so gelang es ihm, aus seiner Phantasie heraus eine Akupunktur zu schaffen, die seinen Zeitgenossen einleuchtend erschien. Verantwortlich dafür waren vor allem zwei völlig falsche, aber ganz dem Zeitgeist entsprechende Interpretationen der chinesischen Nadeltherapie: erstens die Darstellung der Akupunktur-Leitbahnen als "Meridiane". Zweitens das Erklären der Akupunkturwirkung als Beeinflussen von "Energie". Der Begriff "Meridian" erreichte eines: er machte aus den merkwürdigen Gefäßen der Chinesen, die den Anatomen nur Kopfschütteln entlockten, körperlose Linien. Das deckte sich mit der Vorstellung vieler Nichtmediziner, die sogar in den Nerven eher etwas Körperloses sehen, das sie von "schwachen" oder "starken" Nerven sprechen lässt. Warum sollten nicht die Chinesen ein weiteres System solcher körperloser Verbindungslinien gefunden haben? Jedenfalls musste man dann nicht darüber nachdenken, wie diese Linien mit den realen Arterien, Venen, Lymphgefäßen und Nervenbahnen in Einklang zu bringen waren. Dazu passte die Vorstellung von "Energie": unsichtbar, körperlos, gewichtlos wie elektrischer Strom, dennoch ungeheuer wirkungsvoll. Und zu Ehren des Scharlatans muss gesagt werden, dass Soulié de Morant tatsächlich glaubte, was er da als Erklärung der Akupunktur vortrug. Er glaubte es viel wörtlicher als die heutigen TCM-Jünger, die lieber von diffuser "Lebensenergie" sprechen, die alles mögliche bedeuten kann, aber eher nicht elektrischen Strom. Genau das aber glaubte Soulié de Morant. Er war ernsthaft der Meinung, die Nadelung würde einen Ausgleich elektrischer Potentiale bewirken – Grund zu der Annahme, ein Akupunkturpunkt sei nach der Nadelung "entladen" und könne eine Zeitlang nicht wieder verwendet werden (90). Nur dass leider sowohl der Begriff "Meridian" wie auch derjenige einer "Energie" falsch war. Mit dem, was die Chinesen lehrten und praktizierten, hatten beide nur wenig zu tun.
Und was Soulié de Morant betrifft, so hatte er offenbar am Anfang selber keine genaue Vorstellung, worum es da eigentlich ging. Das zeigt eine Darstellung, die ein einziges Mal bei ihm auftaucht – im zweiten gemeinsamen Aufsatz mit Ferreyrolles vom Juni 1931 – und danach nie wieder: Les mauvais effets du vent et de la pluie entrent dans le corps à travers la peau. Ils sont alors conduits aux vaisseaux extérieurs (capillaires). Quand ceux-ci sont pleins, ils vont dans le lo (veines), puis dans les tsing, les artères (91). ("Die schädlichen Einflüsse des Windes und des Regens kommen durch die Haut in den Körper. Sie werden zunächst in die äußeren Gefäße geführt (Kapillaren). Wenn diese voll sind, fließen sie in die Luo-Gefäße (Venen), danach in die Jing-Gefäße, die Arterien"). Aha: die 经 Jing sind die Arterien, die 络 Luo die Venen. Woraus sich unmittelbar ergäbe: Blut und "Qi" wären nicht nur gleichberechtigt, sondern das Blut stünde sogar im Vordergrund. Und die Akupunktur würde dann nicht nur eine körperlose "Energie" regulieren, sondern einen körperlichen Blutfluss. Mit dieser Interpretation wären nicht nur die schönen körperlosen "Meridiane" hinfällig gewesen, sondern auch das eingängige Konzept der Akupunktur als maniement de l’energie – "Beeinflussen der Energie". Außerdem hätte eine Darstellung der "Meridiane" als Blutgefäße unweigerlich die Anatomen und Physiologen auf den Plan gerufen. Die hätten diese angeblichen "Blutgefäße" mit ihren Gabelungen und Zickzackverläufen in der Luft zerrissen, und alle anderen Konzepte des Amateurphysiologen Soulié de Morant dazu. In den folgenden Aufsätzen geht er denn auch ganz schnell davon wieder ab. Im Mai 1934 schreibt er ausdrücklich: L’idée chinoise est que nos organes et notre organisme sont desservis et commandés par une circulation d’énergie indépendenten de la circulations du sang et de la lymphe, "méridiens, tsing" distincts de nos réseaux nerveux ou sanguins (92). ("Die chinesische Idee ist, dass unsere Organe und unser Organismus versorgt und gesteuert werden von einer Zirkulation von Energie, die unabhängig vom Blut- und Lymphkreislauf ist: "Meridiane, Jing", verschieden von unseren Nerven- und Blutnetzwerken").
Offensichtlich hat er zu diesem Zeitpunkt noch keine Kenntnis von dem, was die chinesischen Klassiker dazu sagen. Im Laufe der Jahre jedoch arbeitete er sich immer tiefer in die Bücher hinein, die er inzwischen aufgetrieben hatte. Und da stand unmissverständlich, dass in den Jingluo nach Vorstellung der Chinesen "Blut und Qi" zirkuliert. Beides keineswegs körperlos: Blut sowieso nicht. Und das ominöse 气 Qi? Im Chinesischen kann das hundert Bedeutungen haben kann, von Ursubstanz über Wirksubstanz, Gas, Odem, Atmosphäre bis hin zu Stimmung, Geist und treibender Kraft. Im Körper jedoch ist "Qi" eher als feine Wirksubstanz zu verstehen – teils der Luft, teils der Nahrung entnommen, teils von Geburt an im Körper vorhanden. In seinem Hauptwerk, das weitgehend aus Zitaten besteht, kann auch Soulié de Morant das nicht mehr verschweigen. Denn die chinesischen Klassiker sprechen nicht nur von "Blut und Qi", das in den Jingluo fließen soll, sondern auch davon, dass beide Substanzen in verschiedenen Leitbahnen unterschiedlich verteilt seien. Tatsächlich zitiert Soulié das in seinem Hauptwerk verschiedentlich, etwa beim Lungen-Meridian: The meridian has much energy and little blood (93). Oder beim Dickdarm-Meridian: Energy and blood are equally abundant in this meridian (94). Also doch "Blut und Energie" (wenn man denn Qi als "Energie" bezeichnen will). Dann aber wären die "Meridiane" keineswegs gänzlich verschieden von unseren Nerven- und Blutnetzwerken. Was nun?
21. Der "dreifache Meridiankreislauf" und seine Fließrichtung
Zu den vielen Absurditäten, die unsere Akupunkturgesellschaften den Chinesen beharrlich nachbeten, gehört das Postulat des "dreifachen Meridiankreislaufes" und der "Fließrichtung der Meridiane": Lungenmeridian von der Brust zur Hand, Dickdarmmeridian von der Hand zum Kopf, Magenmeridian vom Kopf zum Fuß, Milzmeridian vom Fuß zur Brust, so der erste "Kreislauf". Aber was soll denn da fließen? Die Logik würde es gebieten, entsprechend der Angabe "Blut und Qi" zu sagen: im Dickdarmmeridian fließt Blut und noch was von der Hand zum Kopf, im Magenmeridian fließt Blut und noch was vom Kopf zum Fuß. Sofort haben wir das Dilemma mit der Anatomie: es gibt im Körper keine Struktur, wo Blut von der Hand direkt zum Kopf fließen würde. Auch nicht vom Kopf zum Fuß. Einige TCM-Jünger versuchen, sich hier herauszureden, indem sie mit Porkert behaupten, das "Blut" der Chinesen sei etwas anderes als das der westlichen Medizin. Aber das ist nicht schlüssig, selbst wenn die Chinesen weder rote noch weiße Blutkörperchen noch Glycoproteine kannten. Die Flüssigkeit, die herausfließt, wenn man sich in den Finger schneidet, hieß auch bei den Chinesen "Blut" – und nichts spricht für die Annahme, mit dem Blut in den Jingluo hätten sie anderes gemeint.
Also scheinbar ein unlösbarer Widerspruch. Wie löst Soulié de Morant den? Durch einen Trick. Ein Trick, so frech und unverfroren, dass man kaum glauben kann, dass er damit durchkam. Wie schafft er das? Nun, ganz simpel. Er zitiert zwar Stellen wie die, wo von much energy and little blood die Rede ist. Aber in seiner Systematik lässt er dies gänzlich außer acht. Hier heißt es beispielsweise vom Dickdarmmeridian: The energy flows from the hand up the arm and neck to the side of the nose (95). Genauso bei allen anderen Meridianen. Sowie es darum geht, was in diesem dreifachen Kreislauf fließt, ist nur noch von "Energie" die Rede. Der einfachste Trick der Welt: ausblenden, was nicht passt. Und das funktioniert bis heute. Wenn der brave deutsche Akupunkteur bei Heuschnupfen nicht nur Dickdarm20-Yingxiang rechts und links der Nase nadelt, sondern auch an der Hand Dickdarm4-Hegu, hat er dieselbe Vorstellung: dass er auf diese Weise irgendetwas Energetisches von der Hand zum Kopf schickt. Aber dass nach Vorstellung der Chinesen dabei auch ein imaginärer Blutfluss in nicht-existenten Blutgefäßen von der Hand direkt zum Kopf verlangsamt oder beschleunigt werden müsste, wird dabei völlig ausgeblendet. Eine Schizophrenie, die bis heute die gesamte Akupunktur bestimmt. Zehn oder mehr Akupunkturgesellschaften gibt es in Deutschland, die mit dem Nacherzählen deutsch-französisch-chinesischer Akupunkturmärchen ihr Geld verdienen. Sie alle lehren (wie die Chinesen) den dreifachen Meridiankreislauf. Und keinem geht auf, dass dieser, wenn es ihn gäbe, laut chinesischer Lehre ja nicht nur ein dreifacher "Energiekreislauf" wäre, sondern auch – neben dem realen Kreislauf durch Arterien und Venen – ein dreifacher zusätzlicher Blutkreislauf. Dreimal von Brust zu Hand zu Kopf zu Fuß, neben Arterien, Venen, Lymphbahnen und Nerven sich durchschlängelnd ... so was glauben und lehren aufgeklärte Leute, die ein Medizinstudium absolviert haben. Und so steht es auch im "Musterkursbuch Akupunktur" der deutschen Ärztekammer.
Man frage einmal Frau Maric-Oehler, bis vor kurzem Präsidentin der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur (DÄGfA): Wie, gute Frau, ist es möglich, bei Magenbeschwerden durch Nadelung des Punktes Magen36-Zusanli eine auffüllende oder "tonisierende" Wirkung auf den Magen zu erreichen – wenn doch die angebliche Fließrichtung des Meridians vom Magen weg zum Fuß hin verläuft? Oder man frage Gabriel Stux, Vorsitzender der Deutschen Akupunkturgesellschaft Düsseldorf, der gebetsmühlenartig den Punkt Magen38-Tiaokou zur Behandlung von Schultersteife empfiehlt: geht das Qi, wenn man diesen Punkt nadelt, erst zum Fuß und von dort zur Schulter? Oder etwa doch, gegen die Fließrichtung des Meridians, direkt zur Schulter? Dann wird man von beiden ein hübsches Gestotter hören. So wie bei allen Lehrinhalten dieser Gesellschaften. Und das Stottern beginnt nicht etwa erst dann, wenn man die Inhalte auf Vereinbarkeit mit wissenschaftlicher Medizin und Biologie abklopft. Es reicht schon, die Dozenten dieser Gesellschaften zu fragen, auf welchen Quellen all diese merkwürdigen Aussagen beruhen, und wie sie im chinesischen Urtext lauten. Woher stammt beispielsweise die ominöse "Organuhr", die sich weder im Huangdi Neijing noch in den heutigen chinesischen Lehrwerken findet? Auf welche Quelle gründen sich diese angeblichen "Energiemaxima und -minima", da doch im Neijing lediglich die Rede von 50 Umläufen ist, die "Qi und Blut" angeblich in 24 Stunden vollziehen? Warum sind Maxima und Minima stets exakt zwei Stunden lang, egal ob bei realen Organen wie Herz und Lunge oder fiktiven wie dem "Herzbeutel"? Was für Organe sind überhaupt gemeint? Ist die Leber der "Organuhr" die TCM-Leber als "Organ der Entschlossenheit", oder aber als biologische Leber das Zentralorgan des Stoffwechsels? Und falls letzteres der Fall wäre – was sollte dann die "Milz" dieser seltsamen 24-Stunden-Uhr sein? Das biologische Organ der Blutmauserung oder das TCM-Organ von "Transport und Umwandlung der Nährstoffe"? Weiter: Warum nennen viele westliche Bücher als besten Zeitpunkt zum "Sedieren" eines Organs oder "Funktionskreises" dessen "Maximalzeit", nicht aber, wie die Logik gebieten würde, zum "Tonisieren" die Zeit des "Energieminimums"? Sondern den Zeitraum unmittelbar nach dem "Energiemaximum"? Selbst solche selbstverständlichen Fragen kann die deutsche Akupunktur nach 60 Jahren ihrer Existenz immer noch nicht beantworten.
Das vielleicht schlimmste Beispiel für Kritiklosigkeit und Denkfaulheit der deutschen Akupunkturgesellschaften sind die Punktekategorien. Tonisierungs- und Sedierungspunkte, Kardinalpunkte, Yuan-Punkte, Luo-Punkte, Alarmpunkte, Meisterpunkte, Spaltpunkte, antike Punkte – aus welchen chinesischen Quellen stammt das eigentlich? Wie kam es zu Märchen wie bei Bachmann, Zeitler, Bahr, Kampik, Stux, Porkert, Richter/Becke und anderen, wo es heißt: "Vom Luo-Punkt besteht eine Verbindung zum Yuan-Punkt des gekoppelten Meridians"? Wer hat das bei wem abgeschrieben und nachgeplappert? Wie ist der chinesische Wortlaut? Was bedeutet der wirklich? Das zu wissen ist nicht nur hilfreich, sondern in vielen Fällen unumgänglich. Der größte Teil diese Kategorien ist nämlich nicht nur klinisch belanglos (96), sondern auch in ihrer Theorie äußerst dürftig begründet. Vielfach reicht schon der gesunde Menschenverstand, um das Absurde dieser Herleitungen zu erkennen. Um so wichtiger wäre es, dass Leute, die in den Akupunkturgesellschaften unterrichten, wenigstens die Grundbegriffe ihres Faches in Wörterbüchern der Originalsprache nachschlagen könnten. Das Gegenteil ist der Fall – angesichts der unzulänglichen Materialien in westlichen Sprachen ein unhaltbarer Zustand. Im Klartext: Dozenten ohne Grundkenntnisse des Chinesischen sind meiner Meinung nach nicht qualifiziert, chinesische Medizin seriös zu unterrichten – schon gar nicht, wenn ihre Schüler dann eine von der deutschen Ärzteschaft anerkannte "Zusatzbezeichnung" erlangen sollen. Zumal nicht nur die Darstellung der Kategorien obsolet ist, sondern auch die der Punkte. In den Lehrbüchern steht immer noch bei fast allen Punkten eine Liste von Indikationen, die in der Praxis so gut wie nie Anwendung finden. Bei jedem Akupunkturkongress finden sich illustre Gäste und berichten von unerhörten Anwendungsmöglichkeiten wenig genutzter Akupunkturpunkte, die sie oder ihre Helfer in irgendeinem chinesischen Wälzer gefunden haben. In Wahrheit erweist sich gerade die "Punktspezifität" (d.h. die Annahme, die Nadelung eines Punktes habe prinzipiell eine andere Fernwirkung als die anderer Punkte) immer mehr als zentrale Frage der Akupunktur. Die Resultate der GERAC-Studien (etwa dass die Nadelung "falscher" Punkte vielfach nur unwesentlich schlechtere Ergebnisse bringt als die der "richtigen") sprechen eher dagegen.
Ein Unding ist weiterhin, dass niemand bei diesen Gesellschaften die "Zusatzbezeichnung Akupunktur" erwerben kann, ohne auch die vor 60 Jahren von dem Franzosen Nogier ausgedachte Ohrakupunktur mitzulernen. Lächerlich ist das brave Nachbeten der obsoleten chinesischen Organlehre. Lächerlich ist die gesamte Fünf-Phasen-Lehre in all ihren Entsprechungen. Und und und. So gut wie nichts davon ist wissenschaftlich haltbar. Vieles widerspricht schon dem gesunden Menschenverstand. Alles davon gehört auf den Prüfstand, müsste von Grund auf neu durchdacht und hinterfragt werden. Aber das ist das Traurige bei den deutschen TCM-Gesellschaften: sie sind nicht nur träge und von zweifelhafter Kompetenz. Sondern sie sträuben sich im Innern auch gegen jede Veränderung dessen, von dem sie so lange und so gut gelebt haben.
22. Das Elend der TCM in China und die Mitschuld des Westens
Seit fast 200 Jahren, d.h. seit dem Eindringen der wissenschaftliche Medizin, ist die alte Medizin in China in der Defensive. Die jungen Intellektuellen, die schließlich die Qing-Dynastie stürzten, verachteten sie. Lu Xun, der größte chinesische Schriftsteller der Moderne, hasste sie als Inbegriff von Chinas Rückständigkeit. Seit 100 Jahren, d.h. seit dem Sturz der Qing-Dynastie, ist die traditionelle Medizin ein Spielball der chinesischen Politik. Die Guomindang-Regierung wollte sie abschaffen. In der Volksrepublik wollte Mao sie anfangs mit der modernen Medizin vereinigen, was ebenfalls ihr Ende bedeutet hätte. Dann aber kam die Kampagne gegen Rechtsabweichler: Auf einmal war jeder verdächtig, der im Ausland gewesen war oder mit ausländischen Einrichtungen Kontakt gehabt hatte. Von den modernen Ärzten waren das fast alle. So wurde die alte Medizin aus rein politischen Gründen wieder aufgepäppelt. Sie erhielt den Namen "Traditionelle Chinesische Medizin". Aber was sich dahinter verbarg, hatte es nie zuvor gegeben. Zum Beispiel, dass aus den 15.000 Schriften der chinesischen Medizingeschichte in aller Eile ein landesweit gültiges Curriculum gezimmert werden musste. Oder dass diese "TCM" nun an Instituten gelehrt und in Krankenhäusern praktiziert wurde. Erst recht, dass die künftigen TCM-Ärzte als erstes einen Grundkurs in moderner Anatomie und Physiologie zu absolvieren hatten. Dass sie anschließend die alte Körper- und Krankheitslehre lernten wie eine Fremdsprache.
Neu war, dass die TCM-Ärzte mit Selbstverständlichkeit Stethoskop und Blutdruck-Messgeräte verwendeten. Dass sie, falls nötig, die Patienten vor einer Diagnose zur Blutuntersuchung und zum Röntgen schickten. Die Überlegenheit der modernen Medizin wurde zwar nie zugegeben. Sie wurde aber stillschweigend dadurch anerkannt, dass Anamnese, Befunde und Diagnose überwiegend in den modernen Kategorien aufgeschrieben wurden. TCM-Diagnose und -Therapie waren dann nur noch Anhängsel. Ebenso neu war, dass die Nadeln nach Gebrauch sterilisiert wurden. Auch eine Hautdesinfektion (mit ihrer sekundenlangen Einwirkungsdauer mehr psychologisch als bakteriologisch wirksam) hatte die alte Medizin nie gekannt. Neu war weiterhin, dass die TCM Raum an Raum mit der modernen Medizin praktiziert wurde. Gleichermaßen neu war die daraus sich ergebende Arbeitsteilung: alle bedrohlichen Krankheitsbilder landeten sofort bei den Kollegen der modernen Medizin. Dennoch gehörte es zur Verlogenheit dieser Zeit, dass die modernen Ärzte Kurse in der traditionellen Medizin besuchen mussten. Erstes Gesetz dieser Kurse war: Fragen verboten (97). Begreiflich, denn jede Frage hätte die TCM-Lehrer das Gesicht verlieren lassen. Dass die Niere das Organ der Vitalität und Sexualität sei, oder dass es neben Arterien und Venen einen weiteren dreifachen Kreislauf gäbe, in dem (neben Qi) ebenfalls Blut fließen sollte, glaubten die Lehrer ja selber nicht mehr. Aber in der Volksrepublik wurde und wird vieles erzählt, was kein Mensch glaubt. Insofern passte die neue, angeblich "traditionelle" TCM gut in die Zeit.
Nicht nur der Bevölkerung wurden in diesen Jahren zahlreiche Märchen erzählt, z.B. über Antikonzeptiva aus Kaulquappenextrakt. Erst recht gelogen war, was man den Ausländern erzählte, etwa die Heilung von Taubstummen durch Akupunktur. Oder dass angeblich eine "Akupunktur-Anästhesie" Standard bei Operationen wäre, selbst bei solchen am offenen Herzen. Allerdings änderte sich das in vielen Bereichen, als 1976 die Kulturrevolution vorbei war. Jetzt durften auch Fragen gestellt werden, insbesondere in den Wissenschaften. Im Prinzip also auch in der Medizin. Eines war jedoch unverändert: die alten TCM-Professoren entschieden nach wie vor über die berufliche Zukunft ihrer Schüler. Also gab es auch jetzt bei den chinesischen TCM-Studenten keine offene Rebellion. Außerdem öffnete sich das Land für Besucher aus dem Westen – und es gehört sich in China nicht, vor Fremden die schmutzige Familienwäsche zu waschen. Doch erwartete man offensichtlich kritische Fragen von den Westlern. Das zeigt das Outline of Chinese Acupuncture, das 1975 als erstes chinesisches Akupunktur-Lehrbuch für Ausländer erschien. Diesem Buch war die Sorge anzumerken, man könnte sich mit der traditionellen Theorie vor den westlichen Ärzten blamieren. Von der Yin-Yang-Lehre war kaum die Rede, von der 5-Phasen-Lehre gar nicht; auch die traditionelle Körper- und Krankheitslehre tauchte nur am Rande auf.
Zur großen Verwunderung der Chinesen jedoch zeigte sich eines: Die Westler, die jetzt in China Akupunktur lernen wollten, legten gar keinen Wert darauf, die TCM-Theorie mit ihren Anatomie- und Physiologiekenntnissen auch nur halbwegs in Übereinstimmung zu bringen. Sie alle hatten schon die Märchen des Soulié de Morant und seiner Nachfolger geschluckt. Jetzt schluckten sie die Märchen, die ihnen die Chinesen erzählten. Die Chinesen rieben sich die Augen. Erst allmählich begriffen sie, welche Vorarbeit da geleistet worden war. Bald wurden die TCM-Kurse und der Export von TCM-Heilmitteln ein Milliardengeschäft. Und hatte es anfangs die Gesichtswahrung verboten, die Westler über die Konflikte in der chinesischen TCM aufzuklären, so verboten es jetzt die Geschäftsinteressen. Die Realität spielte keine Rolle, weder die klinische Praxis noch die Richtigkeit der Begriffe. Hatte man anfangs die Leitbahnen noch als "Channels" bezeichnet, so übernahm man jetzt in den Lehrbüchern für Ausländer den Begriff "Meridian" (98). Na klar, so war es viel einfacher: einen "Channel", in dem "Blut und Qi" von der Hand zum Kopf floss, gab es nicht. Einen "Meridian" dorthin, also eine Linie, konnte sich jeder vorstellen. Den Westlern, so merkte man bald, konnte man alles erzählen. Keiner protestierte. Keiner beharrte auf der Beantwortung wichtiger Fragen.
Zum Beispiel Fragen wie diese: angeblich haben ja die "Meridiane" über Zweige im Körperinneren Verbindung zu den Organen, nach denen sie (auch) benannt sind. Nun gibt es jedoch paarige und unpaarige Organe, und dass sich die Leber nicht in der Körpermitte befindet, wussten auch die alten Chinesen. Folglich müssen die inneren Zweige etwa beim Herz- und Lebermeridian asymmetrisch verlaufen. Warum aber findet man diese Asymmetrie niemals in einer der chinesischen Karten? Und wie ist es möglich, dass selbst bei Leitbahnen mit asymmetrischen inneren Verläufen deren äußerer Verlauf rechts und links absolut symmetrisch ist? Aber die westlichen Jünger fragten nicht. Sie lachten die verknöcherten Funktionäre nicht aus, die sich "Professoren" und ihre Institute "TCM-Universitäten" nannten. Und so kam im Laufe der Jahre nicht nur der alte Kernbestand der TCM-Theorie wieder in die Bücher hinein, sondern auch altes Zeug, das in China selber in der Praxis keinerlei Rolle spielt. Nicht genug mit dem imaginären 3-fachen "Qi-und-Blut-Kreislauf", kam jetzt auch für jede Leitbahn eine sogenannte "Muskelregion" oder "Leitbahnsehne" hinzu, weil das irgendwo im Huangdi Neijing erwähnt ist. Hieß es früher noch vorsichtig "Die alten Ärzte waren der Auffassung, die Milz sei für die Verdauung zuständig", heißt es jetzt wieder: 脾主运化 pi zhu yun hua – Die Milz beherrscht Transport und Verdauung [der Nährstoffe]. So hat gerade der Kontakt mit den westlichen TCM-Freunden dazu geführt, dass die chinesische TCM nicht aufgeschlossener und problembewusster geworden ist, sondern im Gegenteil immer starrer und reaktionärer.
23. Ist die TCM Medizin oder Kultur?
Dabei wäre ein gründliches Durchdenken und Hinterfragen der gesamten TCM gerade in China niemals nötiger gewesen als jetzt. Oben habe ich gezeigt, dass die Meinung "Das wahre Anwendungsfeld der chinesischen Medizin sind die funktionellen Störungen" in Chinas Vergangenheit eben nicht zutraf. Da war die chinesische Medizin ganz im Gegenteil vor allem eine Medizin für bedrohliche Zustände. Das aber lässt die Schlussfolgerung zu: auch ihre Diagnostik war in weiten Bereichen eine Notfalldiagnostik. Und was die Therapie betrifft – größtenteils Verabreichung von Heilmitteln – so galt auch da als Regel: die verschriebenen Mittel nahm man einige Tage, und wenn sich keine Besserung einstellte, rief man den nächsten Arzt. Jetzt, Tür an Tür mit der wissenschaftlichen Medizin, änderte sich das komplett. Jetzt gingen alle bedrohlichen Fälle sofort zu den westlich ausgebildeten Internisten und Chirurgen. Anders als im Altertum beschränkt sich die TCM – erst recht die Akupunktur – heute in der Tat überwiegend auf nicht-bedrohliche Zustände: Schmerzen, Gelenkbeschwerden, chronische Entzündungen und sonstige chronische Leiden – und, in der Tat, die "funktionellen Beschwerden". Mit anderen Worten: die gesamte überlieferte Diagnostik müsste darauf überprüft werden, wie weit sie dem heutigen Anwendungsbereich entspricht.
Dasselbe gilt für die Heilmittelanwendung. Die Langzeit-Einnahme der traditionellen Heilmittel war früher die Ausnahme; heute ist sie häufig. Aber wie viele dieser Substanzen sind bisher auf Nebenwirkungen bei längerer Einnahme überprüft worden? Die wenigsten. Die offizielle TCM-Pharmakopoe aus dem Jahr 2005 nennt ca. 600 Einzelsubstanzen. Von diesen werden 10 explizit als "toxisch" bezeichnet. Und nur bei 3 Substanzen findet sich ein Hinweis auf Long term side effects (99). Diese staatliche Pharmakopoe, so darf man ohne Übertreibung sagen, ist nicht weniger ein Dokument der Schande als das "Musterkursbuch Akupunktur" der Bundesärztekammer. Eine gründliche Überprüfung von Theorie und Praxis der gesamten TCM ist aber nicht nur aus den genannten Gründen erforderlich. Ein weiterer Grund liegt in einem zentralen Problem der chinesischen Medizinüberlieferung. Deren Entwicklung nämlich verlief so, dass wie in einen großen Sack stets alles in sie hineingesteckt wurde: kluge Empirie und tiefe Erkenntnisse ebenso wie haarsträubende Spekulation und platter Aberglaube. Die TCM ist tatsächlich, wie Mao sagte, eine Schatztruhe – aber ebenso (wie Paul Unschuld den Marxisten Tan Zhuang übersetzt) "ein jahrtausendealter Misthaufen" (100). Ihr Elend ist, dass sie bis heute keine Methoden gefunden hat, das Wertlose auszusondern und nur das Brauchbare zu behalten. Bis heute kann sich jeder aus diesem großen Sack sogar den größten Unsinn herausklauben, um ihn als Allheilmittel anzupreisen – und keiner steht auf und lacht ihn aus. Das sahen und sehen auch viele chinesische TCM-Ärzte so. Aber um dieses riesige Konglomerat von Beobachtung, Erfahrung, Weisheit, Spekulation und Aberglauben auszumisten, gibt es zwei Probleme. Das eine sind die alten Lehrer, die ihr Gesicht verlieren würden. Das zweite Problem sind die Westler.
Leider ist man sich im Westen gar nicht klar darüber, wie sehr das Selbstbewusstsein der chinesischen TCM – jedenfalls das äußerlich zur Schau gestellte – heute auf der Anerkennung im Westen beruht. In China selber hat die Bedeutung der alten Medizin in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen. Dies erstens deshalb, weil sie immer mehr den Rückhalt bei den jungen Chinesen verloren hat. Zweitens deshalb, weil auch die Krankenhäuser inzwischen darauf achten müssen, ihr Geld selber zu verdienen. Die schulmedizinischen Abteilungen können ihre Einnahmen durch aufwendige Untersuchungen und teure Medikamente erhöhen. In den TCM-Abteilungen ist das nur begrenzt möglich, zumal bei der Akupunktur. Wenn sich also ein Patient am zentralen Einweisungsschalter eines Krankenhauses meldet, ist seine Überweisung an die TCM-Kollegen für das Haus zunehmend uninteressant. Je schwieriger die Situation der TCM in China wird, desto wichtiger wird für sie der Markt und das Ansehen im Westen: westliche Schüler, westliche Patienten, westliche Apotheken, die immer mehr TCM-Heilmittel importieren und verkaufen. Und jede öffentliche Kritik, jede grundsätzliche Diskussion – so die Sicht der Chinesen – würde diesen Markt gefährden. So tragen die gläubigen westlichen TCM-Freunde eine Mitschuld daran, dass die TCM in China seit dem Ende der Kulturrevolution immer verknöcherter wurde.
Spektakulärer Ausdruck dieser reaktionären Haltung ist ein Vorgang, der im Westen fast unbemerkt geblieben ist. Im Januar 2006 stellte die staatliche TCM-Administration bei der UNESCO den Antrag, die TCM in die Liste des "Immateriellen Weltkulturerbes" aufzunehmen. Das hätte, wenn es durchkäme, schlimme Folgen. Gewiss kann kein Zweifel daran bestehen, dass die TCM – eben weil sie, wie der Name sagt, "traditionell" ist – tief in der chinesischen Kultur verwurzelt ist. Solange sie jedoch primär als Medizin gilt, ist ihr einziges Kriterium nicht die Treue zur Überlieferung, sondern der Wert für den Patienten. Der aber muss immer aufs neue überprüft werden – und wenn sich Erklärungen oder Praktiken als obsolet erweisen, müssen sie korrigiert werden. Genau diese Korrektur, diese Veränderung soll aber mit der Einordnung als "Weltkultur" verhindert werden. Darum ist dieser Antrag zutiefst reaktionär. Deshalb ist es unsere Pflicht, ihn laut und deutlich zu kritisieren (oder sie wäre es jedenfalls, wenn unsere TCM-Gesellschaften nicht so schlafmützig wären). Oder sollen die Patienten, wenn erst die TCM als Weltkultur anerkannt ist, vielleicht nicht mehr in Praxen genadelt werden, sondern im Theater?
24. Chinas "Vereinigte Chinesisch-Westliche Medizin"
Seit den Jahren, wo in China eine Zeitlang die Vereinigung beider Medizinsysteme angestrebt wurde, gibt es dort ein drittes medizinisches System: die 中西医结合 Zhong Xi Yi Jie He, die "Integrative Chinesisch-Westliche Medizin". Nach wie vor verfügt diese über einige zehntausend Ärzte sowie über diverse Krankenhäuser; sie gibt auch einige Zeitschriften heraus. Erstaunlicherweise gibt es von den wichtigsten Lehrbüchern dieser Fachrichtung bisher keine Übersetzung in eine westliche Sprache. Was vielleicht auch besser ist. Das "Integrative" dieser Lehrbücher besteht nämlich nur darin, dass auf der einen Seite die "westliche" Krankheitsbeschreibung und Therapie steht, auf der andern die chinesische. Eine vergleichende Bewertung findet nicht statt. Es herrscht die Fiktion einer prinzipiellen Gleichwertigkeit zwischen chinesischer und moderner Medizin, zumindest ihrer Gleichberechtigung. Gerade darin liegt das Elend der TCM. In der Realität wird sie auch in China nur noch komplementär verwendet, d.h. immer erst nach der Feststellung, ob ein Patient in die Hand der modernen Medizin gehört. Darum ist es absurd, wenn die TCM-Lehrer etwa Schlaganfall immer noch als 中风 Zhong Feng darstellen, also "Getroffensein von Wind" (von außen nach innen vordringend). Aber sie tun es, und niemand lacht sie aus. Keiner fragt, ob die alte Darstellung auch heute noch sinnvoll ist. Keiner fragt: Wie können wir den Patienten optimal helfen? Wenn das wirklich im Vordergrund stünde, müsste die TCM beispielsweise zur Kenntnis nehmen, dass inzwischen viele Patienten mit der Dauereinnahme bewährter moderner Pharmaka leben, etwa bei Hypertonie, bei Diabetes oder zur Blutverdünnung. "Dem Patienten dienen" müsste hier zwangsläufig heißen: "Der modernen Medizin dienen". Dagegen jedoch sträuben sich Chinas TCM-Funktionäre mit Klauen und Zähnen. So sind nach wie vor die einfachsten Fragen unbeantwortet, die sich in der Klinik täglich stellen: Welche traditionellen Heilmittel können die Wirkung von Betablockern oder ACE-Hemmern unterstützen? Welche wirken ihnen entgegen? – Das können derzeit nicht einmal die Kollegen von der "Integrativen Chinesisch-Westliche Medizin" beantworten, geschweige denn die "reinen" TCM-Experten. Oder die Onkologie. Längst wäre hier das Eingeständnis überfällig: Die TCM bietet zur Heilung von Krebs keinerlei Handhabe. Erst dann nämlich könnte man systematisch prüfen: Wie kann die TCM die Verfahren der modernen Medizin unterstützen? Da nämlich hat Chinas alte Medizin in der Tat viel zu bieten, etwa zur Stärkung des Allgemeinzustandes, zur psychischen Stabilisierung sowie zur Verbesserung von Appetit und Schlafverhalten. Aber genau diesem Eingeständnis – dass die TCM der modernen Medizin in fast allen Belangen unterlegen ist – verweigern sich Chinas TCM-Funktionäre. Hier zeigt sich die tiefe geistige Krankheit der TCM in ihrem Mutterland. Deren Symptome sind die eines Psychotikers: Realitätsverlust, Größenwahn, Verlogenheit, panische Angst vor Diskussionen. Und eine wesentliche Mitschuld daran, dass es so weit kommen konnte, tragen die TCM-Freunde im Westen.
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