|
Akupunktur im Westen: Am Anfang war ein Scharlatan
Teil I. Zusammenfassung Teil II. Erst Cholera, dann “funktionelle Störungen” Teil III. Unbegreifliche Aussagen Teil IV. Der GAU des Hochstaplers Teil V. Indizien und ein Urteil Teil VI. Ist TCM Kultur oder Medizin? Teil VII. Nachtrag: Was taugt die Akupunktur? Teil VIII. Literaturangaben und Anmerkungen Teil IX. Fotos
Teil VII. Nachtrag: Was taugt die Akupunktur?
25. Nachtrag: Was taugt die Akupunktur?
Da ich, wie ersichtlich, am geistigen Zustand der TCM sowohl im Westen wie auch in China kaum ein gutes Haar lasse, stellt sich vielleicht die Frage: Taugt denn die Akupunktur wirklich etwas? Ich meine: o ja, das tut sie. Gewiss, man muss sie realistisch sehen. Mit den großen Errungenschaften der neuzeitlichen Medizin – wie Chirurgie, Genetik, Labordiagnostik, moderne Bildgebung, Pharmakologie – darf man sie nicht vergleichen. Sie ist ein übersichtliches, risiko- und nebenwirkungsarmes Instrument zur Behandlung von Schmerzen, Entzündungen und, in der Tat, funktionellen Störungen. Nicht mehr, nicht weniger. Ob sie im alten China jemals von umfassender Bedeutung war, wage ich zu bezweifeln. Aber heute – mit den feinen Nadeln, die derzeit üblich sind, und angesichts der zahlreichen Befindlichkeitsstörungen in den Wartezimmern der Allgemeinmediziner – ist sie es, oder kann es jedenfalls sein. Sie taugt bei Verdauungsstörungen, Schlafstörungen, Kinderwunsch, Fettleibigkeit. Sie taugt zur Verminderung der Erbrechensneigung sowie zur Appetitanregung unter Bestrahlung und Chemotherapie. Sie sollte auch viel öfter (als Elektroakupunktur) bei Lähmungen nach Schlaganfall eingesetzt werden. Sie taugt offenbar so viel, dass sie trotz der außerordentlichen Abweichungen in Theorie, Stichtechnik und Stichtiefe bei unterschiedlichen Schulen immer noch brauchbare Ergebnisse liefert. Wie ist das möglich?
Vielleicht lässt sich das mit einem Beispiel illustrieren. Angenommen, ein katholischer Geistlicher hätte ohne bakteriologische Kenntnisse das Penicillin entdeckt. Und er lehrt, dass dessen Anwendung nur in Kombination mit dem Versprengen von Weihwasser und dem Beten von Ave Marias funktioniert. Ein chinesischer Mönch stellt fest, dass zur richtigen Wirkung Weihrauch und eine Anrufung der Göttin Guanyin gehören. Während ein muslimischer Arzt feststellt, es sei unverzichtbar, sich vor Einnahme des Mittels gen Mekka zu verneigen und dreimal "Allah ist groß" auszurufen. Sie alle werden, entsprechende Erreger vorausgesetzt, mit ihrer Behandlung Erfolg haben. So auch bei der Akupunktur. Die Frage ist natürlich: was ist der unverzichtbare Kern? Was ist das Beiwerk, das man getrost weglassen kann?
Um die Lokalwirkung und eine Allgemeinwirkung zu erklären, reicht für mich die Tatsache, dass die Nadelung Mikroverletzungen erzeugt, und zwar überwiegend an besonders reich innervierten Stellen. Das System der Verletzungsheilung ist bei allen höheren Organismen von entscheidender Bedeutung für die Erhaltung des Individuums und der Art. Es wird aber in der zivilisierten Gesellschaft kaum beansprucht. So wie die Impfung ein Training für das ansonsten unterforderte Immunsystem darstellt, so auch diese artifizielle Mikroverletzung für das ständig bereite System der Verletzungsheilung. Hinzu kommt das Setting. Zwanzig oder dreißig Minuten liegt der Patient auf einer Liege. Im Körper spürt er die Nadeln, die Therapeut oder Therapeutin gesetzt haben. Eine halbe Stunde der Besinnung – und das mit dem Gefühl einer echten, im wörtlichen Sinn vorgenommenen Behandlung. Alles andere steht meiner Meinung nach zur Disposition und muss bis auf weiteres als zweifelhaft gelten. Es kann nicht schaden, weiterhin einen Schwerpunkt auf die bewährten Hauptpunkte zu legen: Magen36-Zusanli, Dickdarm4-Hegu, Milz6-Sanyinjiao, Dickdarm11-Quchi und einige andere. Für sinnvoll halte ich auch (in Grenzen) das Hervorrufen des Deqi und je nach Zustand eine stärkere oder schwächere Stimulation. Auch die Differenzierung von Symptomen und Syndromen nach den Kategorien Yin und Yang, Fülle und Mangel, Hitze und Kälte finde ich nützlich.
Hingegen scheint mir fast die gesamte Kategorienlehre obsolet und verzichtbar, ausgenommen einige segmentale Backshu-("Zustimmungs"-)Punkte. Die "Meridiane" sollten nicht mehr sein als eine Gedächtnisstütze zum Lernen der wichtigen Punkte. Ihre angeblichen inneren Verläufe sind obsolet, erst recht die Fiktion einer "Fließrichtung" dieser Bahnen. Obsolet ist die gesamte 5-Phasen-Lehre samt allen Entsprechungen und Anwendungen. Dasselbe gilt für die chinesische Organlehre, die es bis zum Ende ihrer Entwicklung nicht einmal geschafft hat, wenigstens die Hoden in ihre Theorie zu integrieren. Dabei werden auch in China seit alters her Bullen und Männer nicht durch Herausnehmen der Nieren kastriert, sondern durch Entfernen der Hoden (und nur bei den Eunuchen des Penis gleich mit) – soviel zu der "jahrtausendelangen Erfahrung", die angeblich in der TCM-Theorie stecken soll. Obsolet ist die sogenannte "Organuhr", jedenfalls als System. Obsolet ist ferner die gesamte TCM-Ätiologie mit den "schädlichen Emotionen" als Innen-Ursachen und den "schädlichen klimatischen Einflüssen" als Außen-Ursachen. Obsolet ist der größte Teil der Krankheitslehre, einschließlich des "Eindringens von außen nach innen". Obsolet sind auch die später in der TCM auftauchenden Faktoren wie "Schleim" oder "Blutstase". Sogar die Behauptung, die TCM sei "ganzheitlicher" als die moderne Medizin, trifft lediglich für die chinesische Medizinphilosophie zu. In der klinischen Praxis ist die "Ganzheitlichkeit" kaum mehr als ein Werbeslogan, den die Chinesen dankbar von den westlichen TCM-Freunden übernommen haben.
Was aber bleibt von der Akupunktur, wenn man ihre Lehrinhalte nach rationalen Kriterien durchforstet? Vielleicht 30 Stunden für den Grundkurs und 50 Stunden für Fortgeschrittene – ein Viertel dessen, was heute verlangt wird. Ohne Ohrakupunktur, versteht sich, denn die hat mit der TCM nicht das geringste zu tun und müsste getrennt davon auf Rationalität und Wirksamkeit überprüft werden. Im übrigen bin ich der Meinung, dass die Akupunktur aufgrund ihrer Einfachheit und relativen Gefahrlosigkeit keinesfalls nur von Ärzten praktiziert werden müsste. Vielmehr könnte man sie getrost in die Hände der Physiotherapeuten legen. Dafür wäre lediglich das Dogma aufzugeben, demzufolge eine Physiotherapie prinzipiell ohne Verletzungen der Haut zu erfolgen habe. So weit meine persönliche Sicht. Gewiss: allen meinen Einschätzungen wird man Punkt für Punkt widersprechen, vielleicht sogar sie widerlegen können. Aber in einem, so denke ich, werden mir alle recht geben, die aufmerksam und mit klarem Verstand chinesische Medizin betreiben: Es ist an der Zeit, endlich die gesamten Lehrinhalte der TCM einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen – im Westen wie in China.
Dies um so mehr, als wir jetzt wissen: Am Anfang dessen, was heute im Westen als chinesische Medizin praktiziert wird, stand ein Scharlatan.
|